Bunt wie Luftballons an einer Schnur

  • Mit einem Auszug aus Kurt Schwitters’ Ursonate” beginnt Literatur lernt sprechen 2023” kraftvoll: Der stimmakrobatische Sprecher wird begleitet …
  • … von einer Fülle unterschiedlicher Body-Sounds, die ihn orchestrieren und rhythmisch unterlegen.
  • Das Gedicht Ich liebte sie” von Alexander Puschkin wird bebildert mit pantomimischen Paaren, die in unterschiedlichen Temperierungen das entsagungsvolle Liebegeschehen kommentieren.
  • Drei starke Frauen”: Ida in der Rolle von Goethes Iphigenie, die auch für die Frauen das Recht der unerhörten Tat” einfordert.
  • Drei starke Frauen”: Das Mädchen Grusche aus Bert Brechts Kaukasischem Kreidekreis” legt sich mit einer Bäuerin an …
  • … und wird selbst von einem Soldaten hart angegegangen, gegen den sie sich schließlich …
  • … nur mit Gewalt zu wehren weiß, um den Säugling zu retten, nach dem alle suchen.
  • Drei starke Frauen”: In einer pantomimischen Galerie” mit unterschiedlichen Szenerien …
  • … ist Theresa unterwegs, um darzustellen, wie es sich anfühlen könnte, mal nur für ein paar Tage …
  • … ein alter, dicker Mann” zu sein: Der Text von Margarete Stokowski kommt mit seinen aktuellen Fragestellungen zu Genderfragen ausgesprochen gut beim Publikum an.
  • vielleicht” heißt der kleine Text von Valerie Helmbrecht, den Ida hier einfühlsam vorträgt und zum Sprechen bringt.
  • Die Liebende” von Rainer Maria Rilke wird mit vier Rahmenträgern zum Leben erweckt, die der Rezitatorin …
  • … einen immer neuen Rahmen verschaffen und damit auch den Text feinsinnig einfassen”.
  • Habe nun, ach …”: Der berühmte Eingangsmonolog aus Goethes Faust” wird hier von Quirin höchst impulsiv dargeboten.
  • David und Quirin schlüpfen in die Rollen von Dick & Doof”: Ohne Malheur geht hier gar nichts!
  • Warum einfach, wenn es auch kompliziert laufen kann! Die Stummfilmvorbilder Stan Laurel und Oliver Hardy …
  • … erwachen im Kleinen Goldenen Saal zu ungeahntem Leben …
  • … und bieten mit Tollpatschigkeit, Akrobatik, Hosenträgern und Melonen …
  • … viel Energie und Stoff zum Lachen: Die Umsetzung medial-filmischer Vorbilder hat bei Literatur lernt sprechen” eine lange Tradition.

Ich habe einen Traum – überdimensional riesig und doch passend in meinen kleinen Kopf“, so lautet ein Gedanke aus dem Text Träume“, den die Verfasserin Yvonne Tippelt selbst vorträgt. Diesen Traum möchte sie sich erhalten und ahnt doch, dass die Gefahr besteht, dass Erwachsensein und Berufsleben ihn weit in den Hinterkopf rücken werden. Oder kann man auch das Publikum dazu bewegen, heimliche Träume wieder zu aktivieren und bunt werden zu lassen?

Zu diesen Reflexionen schwingen zwei Schauspieler der achtköpfigen Gruppe, alle nun frisch gebackene Abiturientinnen und Abiturienten, die den diesjährigen, wahrlich traditionsreichen Theaterabend Literatur lernt sprechen“ unter der Leitung von Matthias Ferber bestreiten, eine Schnur, an der einige bunte Luftballons angebracht sind, sanft um die Vortragende und wickeln sie damit zum Schluss ein, sodass man eigentlich nur darauf wartet, dass sie sich wie ihre Träume sogleich in die Lüfte erheben wird.

Betrachtet man die einzelnen Darbietungen des Abends als diese Luftballons an der Schnur, sollen nun weitere bunte Highlights kurz hervorgehoben werden:

Die Veranstaltung beginnt humorvoll und kryptisch und man staunt, mit welch feierlichem Ernst Solist Quirin Schlosser und das Bodysound-Orchester die dadaistische Ursonate“ von Kurt Schwitters zu Gehör bringen. Der Einstieg zu einem Abend, der zahlreiche Facetten der Literatur und verwandter Künste auslotet, ist gesetzt. Die acht Schauspielerinnen und Schauspieler bringen literarische Lieblingstexte und eigene Werke voller Spielfreude, einem Mix aus großer Ernsthaftigkeit und ausgelassenem Klamauk und sprachlich-stimmlich versiert auf die Bühne. Die weiteren selbst geschriebenen Texte Die Meinung der anderen“ von Theresa Mayer und vielleicht“ von Valerie Helmbrecht berühren in der Offenheit der persönlichen Aussage.

Zwei kluge Inszenierungsideen aus dem vielseitigen Potpourri seien herausgegriffen. Ida Hagelüken trägt das Gedicht Die Liebende“ von Rainer Maria Rilke vor. Aus vier Bretterwinkeln legt die Gruppe einen Rahmen um sie, als blicke die Liebende aus einem Fenster. Ein paar Schritte zurück, eine kleine Weitung des Rahmens: Nun schaut die Verliebte in leichter Seitenperspektive in die Ferne, bevor sie scheinbar in der Form eines Passbildes davon eng umschlossen wird. Die letzten Worte spricht sie geborgen unter dem Firmament, das nun die Winkel bilden.

Dann ein Stimmengewirr, die Gruppe ist zu einem Knäuel verdichtet. Das parallele Sprechen der Personen lässt nur einzelne Worte aus Thomas Manns Novelle Tonio Kröger“ erahnen. Allmählich trennt sich der Pulk, nun können die Charaktere ihre Gedanken ausbreiten, bevor sie wieder in die Gruppe eintauchen und sich die Stimmen vermengen.

  • Malervlies schützt den historischen Rokoko-Saal: David lässt sich beim Action-Painting auf die Stimmen aus dem Off ein, die hochemotionale Texte aus Goethes Werther” liefern …
  • … um das Action-Painting anzustoßen und in immer stärkere Ekstasen voranzutreiben.
  • Schritt für Schritt füllt sich vor den Augen des Publikums die Leinwandplatte …
  • … der schließlich die Haut abgezogen wird: Zur Überraschung des Publikums …
  • … ist aus expressiven Gefühlen und eruptiver Farbgebung ein Porträt entstanden.
  • Stargast Klaus Kinski – von Leander gekonnt imitiert –, der durch einen kleinen Trakl-Gedichtvortrag glänzte, hat zunächst nichts Besseres zu tun, als Moderator Quirin aus dem Bild zu stoßen …
  • … bis er schließlich wutschnaubend und mit hemmungslos gewalttätiger Sprache unter Protest den Saal verlässt.
  • Ein Menschen‑, Stimmen- und Gedankenknäuel aus dem gesamten achtköpfigen Ensemble …
  • … entflicht sich langsam, um hochverdichtet Gedanken aus Thomas Manns Novelle Tonio Kröger” darzubieten.
  • Die Todesfuge” von Paul Celan, eingerichtet für Monotonchor und zwei Solostimmen, entpuppt sich als einer der konzentrierten Höhepunkte des Literarischen Abends”.
  • Yvonnes selbst verfasster Text Träume” wird mit Luftballonen zum Bild für Leichtigkeit und Lebensbejahung.
  • Zuletzt glaubt man, die rezitierende Yvonne schon abheben zu sehen.
  • Dick & Doof” ein zweites Mal: Diesmal muss eine tosender Wasserlauf überbrückt werden.
  • Erneut kommt es zu überaus wackeligen, schwankenden und gefahrvollen Momenten …
  • … die vor allem dadurch glänzen, wie sich zwei gegenseitig das Leben schwer machen.
  • Chiara darf den letzten Gast des Abends ankündigen: Es ist aus Loriots Film Pappa ante portas” der Star unter den Gegenwartspoeten …
  • … Lothar Frowein: Es gelingt ihm tatsächlich, ein vierzeiliges Gedicht vorzutragen.
  • Das Publikum geizt nicht mit wertvollen Ratschlägen und intensiver Begleitung der Lesung.

Besonders bunt wird es vor der Pause, als David Schwarz seine Assoziationen zu Auszügen aus Goethes Werther“ im Stil des Action-Paintings auf eine Großleinwand malt. Hier bedurfte es einer gewissen Geduld, bevor ein großflächiges Gemälde in die Luft gereckt wurde, das einen zumindest für den Rezensenten glaubhaften Eindruck von Werthers Seelenlandschaft vermittelte. Doch plötzlich wurde an allen Ecken und Enden des Gemäldes gezogen und gerissen, bis sich ein Scherenschnitt von Werthers Haupt entpuppte. Oder war es doch der letzte Mohikaner?

Alle 15 Einlagen zu besprechen, würde den Rahmen sprengen. Auf jeden Fall müssen aber auch die äußerst witzigen pantomimischen Szenen Die Leiter“ und Die Brücke“ genannt werden, bei denen David Schwarz und Quirin Schlosser auf brillante und charmante Weise in die Rollen von Stan Laurel und Oliver Hardy geschlüpft sind. Größte Freude boten auch die Ausbrüche von Leander Weide in der Rolle Klaus Kinskis und der wunderbar dargebotene Wunschzettel an den lieben Weihnachtsmann, in dem Margarete alias Theresa Mayer den Wunsch äußerte, für eine Woche ein alter, dicker Mann zu sein. Wie auch hier ein Einzelvortrag in eine Gruppe eingebettet worden ist, da während des Monologs Standbilder animiert worden sind, verrät die Kunst des Spielleiters, die einzelnen Ideen und Vorschläge in ein stimmiges Konzept zu integrieren und in kurzer Zeit eine harmonische und überzeugende Schauspielgruppe zu formen.

Am Ende toste zurecht großer Beifall und die Zufriedenheit und Ausgelassenheit der Schauspielerinnen und des Regisseurs bei der Verbeugung zeigten, dass der Abend traumhafte Luftballons zum Schweben gebracht und wie am Schnürchen geklappt hat.

  • Das Publikum belohnte das Schüleroktett und seinen Leiter Matthias Ferber mit rauschendem Applaus für den tollen, berührenden und mitreißenden Abend.

Wir danken Dr. Joachim Schlosser für das wunderbare Bildmaterial zu diesem Abend.