Brecht im Kleinen Goldenen Saal – Ein Werk der Gegensätze
Im Rahmen des alljährlichen Brechtfestivals zu Ehren des Literaten Bertolt Brecht und seiner Arbeiter- und Theaterliteratur führte auch dieses Jahr wieder der Chor von Sankt Stephan unter der Leitung von Dr. Ulrich Graba ein Stück auf, die Kantate „Die Mutter“. Dirigent Graba, der die 14 Lieder der Kantate mit dem Chor über viele Monate einstudiert hatte, verlieh der musikalischen Darbietung ihre bedeutsame Präzision. Brechts Stücke erscheinen dabei aktueller denn je und verlieren keinesfalls an Relevanz, sodass auch beim diesjährigen Festival Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt aufeinandertrafen und ihre Beiträge zur Schau stellten. Das Zusammenspiel aus dem epischen Text Bertolt Brechts, der Musik Hanns Eislers, den Musizierenden und dem Kleinen Goldenen Saal als Ort der Aufführung zauberte Kontraste, die einen erfolgreichen Abend bescherten.
Am Freitag, dem 25. Februar 2022, wurde energisch und voranschreitend die Emanzipationsgeschichte der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer im Kleinen Goldenen Saal dargeboten. Die Kantate „Die Mutter“, basierend auf der gleichnamigen Romangrundlage des russischen Dichters Maxim Gorki, stellt die Lebensgeschichte der Revolutionärin da, die zunächst als tatkräftige Unterstützerin ihrem Sohn in der Revolution im spätzaristischen Russland zur Seite steht. Als ihr Sohn Pawel 1917 stirbt, trägt sie nun selbstständig sowohl die „rote Fahne“ als auch den Gedanken der Revolution weiter.
Am Freitag beschränkte sich die instrumentale Besetzung auf zwei Klaviere, gespielt von Matthias Gyr und dem Absolventen Stefan Schuster. Die so entstandene Einfachheit verschaffte den Inhalten des Werkes ganz gezielt ihre angestrebte Wirkung. Gemeinsam mit zwei Solisten, Julia Pfänder (Mezzosopran) und Manuel Wiencke (Bariton), schuf die Zusammenarbeit mit dem dänischen Schlager- und Jazzstar Gitte Hænning, auch „Gitte“ genannt, einen scharfen Kontrast zu den sonst üblichen Inszenierungen von Werken Brechts.
Der Schülergeneration war „Gitte“ eher weniger geläufig, wohingegen ihre Eltern sofort wussten, von welcher Persönlichkeit die Rede war. Mit ihrem Hit „Ich will ’nen Cowboy als Mann“ wurde sie in den 1980er Jahren zu einer der beliebtesten Schlagerinterpretinnen und erkannte in dieser Brechtinszinierung ihre besondere Rolle als Akteurin: Sie beschrieb die Mischung aus Brecht und ihrer Schlagerstimme als „exotisch“ und hatte ebenfalls große Freude an dem Experiment der Zusammenarbeit mit den jungen Musikern von Sankt Stephan.
Die Entstehung der Chorinszenierung beschränkte sich zunächst auf die Chorproben, wo jedoch bis zum Schluss heiß um die politische Thematik, den Kommunismus beziehungsweise Sozialismus, diskutiert wurde. Es stellte sich die Frage: Darf so etwas heutzutage überhaupt noch aufgeführt werden?
Die Meinungen spalteten sich: Dabei waren für einige Schüler die politischen Hintergründe von „Die Mutter“ zweitrangig zu der musikalischen und künstlerischen Darbietung zu betrachten. Andere Akteure lehnten den Kommunismus als theoretisches Konstrukt strikt ab, weitere erkannten die Aktualität der Thematik aus dem damaligen Russland und Brechts Mittel zur Verfremdung, also eine legitime Berechtigung zur Aufführung teilweise kommunistischer Werke.
Auch die Kombination verschiedener musikalisch-epochenprägender Elemente aus der Wiener Klassik, Romantik und natürlich der Moderne, von Komponist Hanns Eisler geschaffen, ließ einige Schüler wegen der teilweisen Atonalität und „schrägen Musik“, der speziellen Rhythmen, an dem Werk zweifeln. Einmal gelernt fand jedoch jeder am gemeinsamen Musizieren seine Freude und trug die Kantate „mit Biss“, wie eine Sängerin des Chors formulierte, dem Publikum vor.
Das Werk verbindet die Akteure auf der Bühne miteinander, auch das Publikum wurde an diesem Abend in den Bann der Wirkung von „Die Mutter“ gezogen. Die Kombination aus Alt- und Neu-Stephanern, dem schmuckvollen Kleinen Goldenen Saal und der einfachen, aber fordernden Direktheit Brechts, alles begleitet durch den Star Hænning, schuf ein Projekt der Gegensätze, was insgesamt ein überzeugendes Gesamtwerk hervorbrachte.
Alle Teilnehmer empfanden die insgesamt zwei Aufführungen des Abends als gelungene und „grandiose“ Vorstellungen und auch bei Nachfrage im Publikum wurde der Erfolg der Akteure betont. Die Zuschauer wurden „mitgerissen“ und vom Schulchor von Sankt Stephan einmal mehr wieder klar überzeugt.