Bunt wie Luftballons an einer Schnur
„Ich habe einen Traum – überdimensional riesig und doch passend in meinen kleinen Kopf“, so lautet ein Gedanke aus dem Text „Träume“, den die Verfasserin Yvonne Tippelt selbst vorträgt. Diesen Traum möchte sie sich erhalten und ahnt doch, dass die Gefahr besteht, dass Erwachsensein und Berufsleben ihn weit in den Hinterkopf rücken werden. Oder kann man auch das Publikum dazu bewegen, heimliche Träume wieder zu aktivieren und bunt werden zu lassen?
Zu diesen Reflexionen schwingen zwei Schauspieler der achtköpfigen Gruppe, alle nun frisch gebackene Abiturientinnen und Abiturienten, die den diesjährigen, wahrlich traditionsreichen Theaterabend „Literatur lernt sprechen“ unter der Leitung von Matthias Ferber bestreiten, eine Schnur, an der einige bunte Luftballons angebracht sind, sanft um die Vortragende und wickeln sie damit zum Schluss ein, sodass man eigentlich nur darauf wartet, dass sie sich wie ihre Träume sogleich in die Lüfte erheben wird.
Betrachtet man die einzelnen Darbietungen des Abends als diese Luftballons an der Schnur, sollen nun weitere bunte Highlights kurz hervorgehoben werden:
Die Veranstaltung beginnt humorvoll und kryptisch und man staunt, mit welch feierlichem Ernst Solist Quirin Schlosser und das Bodysound-Orchester die dadaistische „Ursonate“ von Kurt Schwitters zu Gehör bringen. Der Einstieg zu einem Abend, der zahlreiche Facetten der Literatur und verwandter Künste auslotet, ist gesetzt. Die acht Schauspielerinnen und Schauspieler bringen literarische Lieblingstexte und eigene Werke voller Spielfreude, einem Mix aus großer Ernsthaftigkeit und ausgelassenem Klamauk und sprachlich-stimmlich versiert auf die Bühne. Die weiteren selbst geschriebenen Texte „Die Meinung der anderen“ von Theresa Mayer und „vielleicht“ von Valerie Helmbrecht berühren in der Offenheit der persönlichen Aussage.
Zwei kluge Inszenierungsideen aus dem vielseitigen Potpourri seien herausgegriffen. Ida Hagelüken trägt das Gedicht „Die Liebende“ von Rainer Maria Rilke vor. Aus vier Bretterwinkeln legt die Gruppe einen Rahmen um sie, als blicke die Liebende aus einem Fenster. Ein paar Schritte zurück, eine kleine Weitung des Rahmens: Nun schaut die Verliebte in leichter Seitenperspektive in die Ferne, bevor sie scheinbar in der Form eines Passbildes davon eng umschlossen wird. Die letzten Worte spricht sie geborgen unter dem Firmament, das nun die Winkel bilden.
Dann ein Stimmengewirr, die Gruppe ist zu einem Knäuel verdichtet. Das parallele Sprechen der Personen lässt nur einzelne Worte aus Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“ erahnen. Allmählich trennt sich der Pulk, nun können die Charaktere ihre Gedanken ausbreiten, bevor sie wieder in die Gruppe eintauchen und sich die Stimmen vermengen.
Besonders bunt wird es vor der Pause, als David Schwarz seine Assoziationen zu Auszügen aus Goethes „Werther“ im Stil des Action-Paintings auf eine Großleinwand malt. Hier bedurfte es einer gewissen Geduld, bevor ein großflächiges Gemälde in die Luft gereckt wurde, das einen zumindest für den Rezensenten glaubhaften Eindruck von Werthers Seelenlandschaft vermittelte. Doch plötzlich wurde an allen Ecken und Enden des Gemäldes gezogen und gerissen, bis sich ein Scherenschnitt von Werthers Haupt entpuppte. Oder war es doch der letzte Mohikaner?
Alle 15 Einlagen zu besprechen, würde den Rahmen sprengen. Auf jeden Fall müssen aber auch die äußerst witzigen pantomimischen Szenen „Die Leiter“ und „Die Brücke“ genannt werden, bei denen David Schwarz und Quirin Schlosser auf brillante und charmante Weise in die Rollen von Stan Laurel und Oliver Hardy geschlüpft sind. Größte Freude boten auch die Ausbrüche von Leander Weide in der Rolle Klaus Kinskis und der wunderbar dargebotene Wunschzettel an den lieben Weihnachtsmann, in dem Margarete alias Theresa Mayer den Wunsch äußerte, für eine Woche ein alter, dicker Mann zu sein. Wie auch hier ein Einzelvortrag in eine Gruppe eingebettet worden ist, da während des Monologs Standbilder animiert worden sind, verrät die Kunst des Spielleiters, die einzelnen Ideen und Vorschläge in ein stimmiges Konzept zu integrieren und in kurzer Zeit eine harmonische und überzeugende Schauspielgruppe zu formen.
Am Ende toste zurecht großer Beifall und die Zufriedenheit und Ausgelassenheit der Schauspielerinnen und des Regisseurs bei der Verbeugung zeigten, dass der Abend traumhafte Luftballons zum Schweben gebracht und wie am Schnürchen geklappt hat.
Wir danken Dr. Joachim Schlosser für das wunderbare Bildmaterial zu diesem Abend.