Das Wir-Gefühl als Frucht der Herausforderung
2020 wird ein guter Jahrgang! Das Abitur, das lange mit großer Unsicherheit und dem Gefühl allzu vieler Minderungen verbunden war, entpuppte sich bei der Zeugnisverleihung am 17. Juli als eine außergewöhnlich intensive Erfahrung. Schulleiter Bernhard Stegmann brachte es auf den Punkt: „Bedauern ist nicht konstruktiv.” Viel konstruktiver ist es zu sehen, was in den vergangenen Monaten geschafft wurde: Gegenseitige Ermutigung, stärkerer Kontakt, Bündelung der Kräfte, konzentrierte Vorbereitung. Heißt es sonst immer „Wir haben es geschafft!”, so hat die Absolvia 2020 das Gütesiegel „Wir haben es geschafft!”
Diese Neuentdeckung des Wir-Gefühls nannte Stegmann die entscheidende Blaupause für alle künftigen Herausforderungen. Damit sind die Abiturientinnen und Abiturienten dieses Jahres mit einer Erfahrung ausgestattet, die weit über jugendliche Freiheitsgefühle und die Unbeschwertheit eines Abitursommers hinausgeht: Wir sind vorbereitet auf all das, was da kommen mag, weil wir die kraftvolle Idee des Wir erfahren und gelingend erprobt haben.
Die Entscheidung der Schule, von einer Zeugnisübergabe im Rokoko-Rahmen des Kleinen Goldenen Saales nicht abzugehen, führte zu einem dichten und einprägsamen Format. Mit rund 80 Personen im Saal konnte der Jahrgang in der Aufgliederung seiner Mathematik- und Deutschkurse in drei Veranstaltungen jeweils eine Stunde zusammenkommen und die Eltern konnten ihre Jugendlichen begleiten und den bewegenden Moment der Zeugnisübergabe miterleben.
So war an diesem Freitag alles dreifach: Die Schulleiterworte, die kleinen musikalischen Beiträge und die Reden von Schüler- und Elternseite. Musiklehrer Bastian Walcher hatte aus jeder der drei Schülergruppen feine und hygienekonzepttaugliche Musikstücke für Klavier (Polina Kuzmina, Julia Maucher, Felix Schneider), Gitarre (Cornelius Geirhos), Cello (Judith Gayler) und Vibraphon (Nicolas Weißerth) zusammengestellt, die berührten.
Für die Schülerschaft sprachen Paul Nusser, Cara Berlis und Kay Dafler. In allen drei Reden ging es neben der früheren Minderhygiene des Jahrgangs (dem nachdenklich stimmenden „Untergang” des Oberstufenzimmers) auch um die coronabedingte Überhygiene (ein anonymer Brief aus der Q12 an die Lokalzeitung, durch den eine Anwesenheitsliste zum öffentlich debattierten Infektionsrisiko fehlgedeutet wurde). Viel eindrücklicher aber empfanden die jungen Redner das breite Erlebnis von Bildung und gelebtem Miteinander als prägende Erfahrung an St. Stephan: Da wurde gedankt und geahnt, dass all das lebensformend werden kann.
Für die Eltern sprachen die frühere Elternbeiratsvorsitzende Christine Sommer, Rechtshistoriker Prof. Dr. Christoph Becker und Monika Schuster, die mit ihrem dritten Sohn auch selbst auf ihre lange Zeit als Mutter an St. Stephan zurückblickt. Christine Sommer ging eindringlich auf die Corona-Erfahrungen des Abiturjahrganges ein: Das „Höher, schneller, weiter” sei gestoppt, sicher sei in der globalen Pandemie nichts mehr. Damit sei die zentrale Frage gestellt: In welcher Gesellschaft wollt ihr leben? Durch Lehrer, die zur Eigenständigkeit ermuntert haben, und Eltern, deren Fürsorge gestärkt hat, ist der Weg zu einer existenziellen Freiheit angebahnt. Nicht mehr Sicherheit, sondern die Offenheit des Möglichen sei der Ausblick des Abiturjahrganges 2020.
Christoph Becker lud mit einem Horazspruch, der an „seinem” Quirinius-Gymnasium in Neuss an der Fassade zu lesen ist, zur Reflexion über Bildung ein: „Doctrina vim promovet insitam.” – Der Unterricht bringt nur Kräfte voran, die bereits angelegt sind. In diesem Sinne ist das Abitur kein Abschluss, sondern die Kraft für weitere Schritte, aus denen dann ein Lebensweg werden kann. Ermunternd lud Becker die Abiturienten zu diesem Weg ein.
Monika Schuster zeichnete in ihren Worten das Bild einer lebendigen Schule, in der neben den Kindern auch die Eltern und Familien vielfach willkommen waren zu Konzerten und Veranstaltungen, vor allem aber zu Gesprächen und Gedankenaustausch. Hier und jetzt sei der rechte Augenblick, diesen geschützten Raum Schule ein letztes Mal dankbar zu genießen.
Besonders gewürdigt wurde das Engagement von Schülerinnen und Schülern: Neben Anerkennungspreisen in Form von Urkunden, Büchern oder Anstecknadeln in den Fächern Latein, Biologie, Physik oder Mathematik verlieh der Elternbeirat, vertreten durch Schulleiter Stegmann, seinen Sozialpreis an Nicola Kost für vielfältiges Engagement. Vom Bibliotheksdienst in der Lernmittelbibliothek über die Tutorentätigkeit im Tagesinternat bis zum ehrenamtlichen Wirken in Jugendstrafverfahren reicht die Palette von Nicolas Wirken. Sichtlich überrascht nahm sie freudig den Preis entgegen. Den Musikpreis, beruhend auf einer Stiftung, durfte in diesem Jahr Polina Kuzmina für ihr vielfältiges Wirken als Musikerin, Klavierbegleiterin und Konzertorganisatorin in Empfang nehmen.
Jeweils nach rund 50 Minuten waren die drei Zeugnisverleihungen beendet. Und wo sonst der Elternbeirat stets zu einem großen Büffet einlädt, hielten die einfallsreichen Beiratsmitglieder für jede Abiturientin und jeden Abiturienten ein kleines Sektfläschen bereit als Zeichen der Verbundenheit: „Alles Gute für das Leben!” – Und schon schlüpften alle hinaus, gemäß tief eintrainierter Hygieneregeln auf Sicherheit bedacht, doch voller Wir-Gefühl …