Der schwarze Zahn, die kleine Grille und der kalte Fluss
Was denken Sie, wenn Sie zu Ihrem China-Thai-Vietnam-Imbiss gehen? Denken Sie über das Schicksal derer nach, die dort in der stickigen, engen Küche arbeiten und Ihnen – fast immer mit einem Lächeln – Ihre Suppe servieren? Oder denken Sie vielmehr: Die 13 ohne Erdnüsse, die 62 und zweimal gebackene Banane, aber ein bisschen plötzlich!
Es ist eine alltägliche Situation, die Schimmelpfennigs Stück aufgreift, aber schon in den ersten Minuten ins Groteske und Abgründige umdeutet. Ein junger Mann hat grässliche Zahnschmerzen, eine junge Frau ist schwanger, ein alter Mann will wieder jung sein, ein anderer Mann wurde von seiner Frau verlassen und dann hat der junge Mann immer noch Zahnschmerzen.
Fabel von der Grille und der Ameise – brutal modernisiert
Die Szenen sind kurz und wechseln schnell – und doch sind sie auf eine Weise, die sich dem Zuschauer erst nach und nach enthüllt, miteinander verwoben. Alle Personen wohnen in dem Haus, in dessen Erdgeschoss sich der „Goldene Drache“ befindet. Der junge Mann kann nicht zum Zahnarzt, denn er ist illegal in Deutschland, genau wie die Schwester, die er sucht, und von der er immer spricht. Der alte Mann und der Mann, der von seiner Frau verlassen wurde, wollen etwas ganz Bestimmtes vom Leben: wieder jung sein, Macht ausüben, Rache. Dazu nehmen sie die „Dienste“ der „kleinen Grille“ in Anspruch, des Mädchens, das versteckt bei der „Ameise“, dem Lebensmittelhändler im gleichen Haus, wohnt und für ein wenig Essen sexuell ausgebeutet und missbraucht wird. Die Männer reißen der Grille die Flügel aus, ob sie lebt oder tot ist, bleibt unklar. Natürlich ist sie die Schwester des jungen Mannes, war ihm die ganze Zeit über nah und wird ihn doch nie wiedersehen, denn auch der junge Mann muss sterben, verblutet, weil ihm der verfaulte Zahn mit einer Rohrzange gezogen wurde. Sein Körper aber findet den Weg zurück in die Heimat nach China, nachdem ihn die Kollegen aus dem „Goldenen Drachen“ – in einen Teppich mit ebendiesem Motiv eingewickelt – in den Fluss geworfen haben. Was mit dem kariösen Zahn passiert – nun, dieser Text soll nicht alles enthüllen, aber es ist abstoßend, rührend und philosophisch zugleich. Schimmelpfennigs Drama verbindet das traurige Schicksal des jungen Geschwisterpaares mit der Fabel von der Ameise und der Grille, deren Lehre hier geradezu bestialisch grausam gerät.
Kleines Ensemble mit großer Kraft
Das kleine Ensemble des Oberstufentheaters unter der klugen Regie von Markus Müller bewältigt die Herausforderung des „Goldenen Draches“ bravourös und gestaltet einen unvergesslichen Theaterabend. Die schnellen Szenenwechsel gelingen, die Figuren sind teilweise beängstigend glaubwürdig. Sebastian Beck, Joshua Wölfel, Verena Bittinger, Kathrin Bakhov und Alessa Oster spielen wie entfesselt. Kaum jemand könnte die grausame Fabel so lesen wie Joshua Wölfel, auf so plakative Weise verbluten wie Kathrin Bakhov oder sich auf diese Weise mit einem Zahn beschäftigen wie Verena Bittinger. Hochachtung für alle Beteiligten, auch an die Technikgruppe um Tibor Schrag, der für diese Aufführung aus seinem „Ruhestand“ gekommen war! Wohl keine Person aus dem Publikum wird „seinen“ China-Thai-Vietnam-Imbiss nach diesem Stück wieder so sehen können wie zuvor.