Die drei Leben der Antigone
Individuum, Familienmitglied, Staatsperson – vereint in einem Charakter und in einem unlösbaren inneren Konflikt stehen die drei Gesichter der Antigone.
Einblick in zwei dieser Seiten der bekannten mythologischen Figur wurde der Klasse 10a und einigen Schülern der 10d und der Q11 gewährt: Am Samstag, dem 20. Mai 2023, fand endlich die lang geplante Theaterfahrt in das Residenztheater München statt.
Nach einer angenehmen Zugfahrt, einer leidenschaftsvollen Ausführung Herrn Ferbers über das bevorstehende Stück und einer raschen, verzweifelten Suche nach einem Supermarkt saßen alle pünktlich um 20.00 Uhr voll Vorfreude und sehr gespannt auf die Aufführung im Theatersaal.
Diese gewährte uns in den beiden Akten zwei verschieden Blickwinkel auf die Tragödie: Im ersten Teil erlebten wir die originale „Antigone“ des Tragödiendichters Sophokles in stark gekürzter Form – unter Verwendung von Gedanken des Philosophen Slavoi Žižek – sehr modern inszeniert: Verlegt ist das Geschehen in einen Regierungsbunker. Dort wurde erst die private und innerfamiliäre Situation Antigones in den Blick genommen: Sie ist Tochter von Ödipus und dessen eigener Mutter, sein Bruder Kreon hat nach Ödipus’ Selbstmord die Herrschaft über Theben übernommen. Als Antigones Brüder im Krieg sterben, lässt dieser den einen würdevoll bestatten, den anderen aber, der als Landesverräter gilt, straft er mit dem Bestattungsverbot.
Antigone aber kann und will dies nicht zulassen: Sie beschließt, die Gesetze der Götter einzuhalten, ihren Bruder zu bestatten und sich damit ihrem Onkel Kreon zu widersetzen. Dieser aber beruft sich als König auf die irdischen Gesetze und verurteilt seine Nichte und künftige Schwiegertochter zum Tode, als diese trotz des Verbotes ihren Bruder bestattet. Obwohl der blinde Seher Teiresias ihn vor dieser Entscheidung warnt, sieht Kreon erst nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes seine Ohnmacht gegenüber den Göttern ein und erkennt seinen eigenen Hybris.
Im zweiten Akt tritt zum ersten Mal der antike Chor in Form des Personals des Sitzungssaals des Bunkers auf und bietet damit eine weitere Perspektive auf die Situation: Dieselbe Handlung findet nun auf einer polizisch-gesellschaftichen Ebene statt und zeigt ein weiteres Gesicht Antigones: Ihre Verantwortung als Staatsperson, die Pflicht, sich an die irdischen Gesetze zu halten und die Vorbildsfunktion, die sie als Nichte des Königs erfüllen muss, stehen in unlösbarem Konflikt zu ihrer persönlichen Moral.
Der Regierungsbunker, seine zudringliche Alarmtechnik, seine funktionale Kühle und zertrennende Wirkung heben die emotionalen und sozialen Aspekte des Sophokles-Dramas in ein überraschend klares Licht. Auch die Zerlegung der beiden „Akte” in unterschiedliche Vorder- und Hintergrund-Ereignisse geben dem unauflösbaren Konflikt eine immense Klarheit. Besonders zupackend war auch der Schluss: Der Bunker rutscht wieder in den Alarm- und Notfall-Modus, denn der Bürgerkrieg hat sich nicht in eine neue Ordnung aufgelöst, sondern kehrt verschärft zurück. Bilder wie bei der Stürmung des amerikanischen Kapitols in Washington im Januar 2021 zeigen, wie nah diese Problemstellung uns bis heute ist.
Die auf eindrucksvolle Weise modern inszenierte antike Tragödie stieß bei allen Schülerinnen und Schülern auf große Begeisterung und führte zu angeregten Diskussionen auf der nächtlichen Zugfahrt zurück nach Augsburg.
Unser herzlicher Dank gilt Herrn Ferber, Frau Wunderl und Frau Kreuzer, die uns durch ihre Organisation und Begleitung diesen Theaterbesuch ermöglicht und ihn durch aufschlussreiche Antworten auf unzählige Fragen bereichert haben.