Die Türen öffnen sich!
In St. Stephan Abitur zu machen, das bedeutet, dass sich noch einmal so richtig viele Türen öffnen. Die Entlasswoche Ende Juni ist geprägt durch viele Veranstaltungen, bei denen sich unser Gymnasium nochmals in Fülle und Breite als einladend, kreativ, gemeinschaftlich und auch tiefgründig zeigt und seine Tore öffnet.
Das beginnt stets dienstags mit dem literarischen Abend „Literatur lernt sprechen”, der auch 2024 – zum Finale des achtjährigen Gymnasiums – den unfassbaren Reichtum an Lebendigkeit, Nachdenklichkeit und Heiterkeit junger Menschen zeigte. Am Donnerstagabend öffneten sich mit einem Konzert im Kleinen Goldenen Saal die Pforten der Musik. Heuer durfte der Chor mit Kyrie und Gloria aus der „Cäcilienmesse” von Charles Gounod beginnen, mit Diana, Moritz und Andrij aus dem Abiturjahrgang als Solisten. Cassian, Emilia, Aurel, Anna, Elise, Andrij, Diana und Sophia durften in Solosätzen von Mozart, Sarasate, Rachmaninow, Bruch und Larsson ihr feines Können als Instrumentalisten zeigen, bis ein Medley aus „My Fair Lady” von Friedrich Loewe das stimmungsvolle Konzert abrundete.
Am Freitag schließlich heben sich die Tore zum Leben, wenn in der Übergabe der Abiturzeugnisse der Status als Schülerin oder Schüler schlagartig beendet ist. Zunächst aber geht’s durch die Tür der Stephanskirche zu einem ökumenischen Gottesdienst, den Abt Theodor Hausmann hielt und stärkende Worte fand, wie man auf eigenen Füßen in Freiheit stehen und gehen kann. Das anschließende Jahrgangsfoto ist der letzte Augenblick, wo nochmals alle wörtlich und übertragen „zusammenstehen”, denn dann gehen die Familien in den Kleinen Goldenen Saal – einen schöneren, stimmungsvolleren und leichteren Ort für eine Entlassfeier kann man sich gar nicht denken.
Ein letztes Mal musizieren die Schülerinnen und Schüler für ihre Gäste, vor allem aber füreinander. Das war heuer ganz ausgeprägt zu spüren, wie tief die Absolvia 2024 bei sich selbst war und so mitfiebernd wie dankbar all die Beiträge von Lukas, Antonia, dem Barbershop-Quintett (mit Aurel, Lukas, Vincent, Andrij und Philipp), Cassian und dem Stephaner-Streichquartett (mit Elise, Lilly, Andrij und Jette) begleitete und honorierte.
Den Reigen der Reden eröffnete Dr. Peter Fassl, Absolvent der Goldenen Absolvia von 1974 und langjähriger Bezirksheimatpfleger – genau genommen waren es 33 Jahre. Die Rolle als Ratgeber wollte er nicht annehmen, vielmehr legte er sehr persönlich Zeugnis ab von dem, was ihm das Leben abverlangt und gezeigt hat: Mut auch zu Misserfolgen, Anerkennen der Wirklichkeit als Grenzzieher und Chancengeber, Pflege der Erinnerung als persönlichen Schatz und des Vertrauten als Lebensbasis, Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen, Freude an Rhythmus, Spiel und Neugier, vor allem aber Geduld als Merkmal hoher Dynamik.
Für den „Verein der Freunde und Förderer” von St. Stephan sprach 1. Vorsitzende Christine Sommer einen klugen Gedanken aus, der vom Surrealisten Salvador Dalí stammt: „Am liebsten erinnere ich mich an die Zukunft.” Sommer betonte, Zukunft sei das Gegenteil vager Konzepte, nämlich das Ergreifen von Träumen, Chancen und Ambitionen, die schon längst durchdacht sind und die Welt verkörpern, nach der man sich sehnt. Gerne wies Christine Sommer auch darauf hin, wie der Förderverein Ziele für die Schule verwirklicht, die zunächst als unerreichbar scheinen, und lud die Absolvia 2024 zur Mitgliedschaft im Verein ein.
Schulleiter Alexander Wolf trat ans Rednerpult mit einer eindringlichen Mission, er hatte für alle, die beruflich und zukunftsgestaltend noch zögern, ein starkes Angebot mitgebracht: Dringend gesucht werden noch Kreativarbeiter mit Leidenschaft, Empathie und Qualitätsanspruch. All das weist der Jahrgang 2024 ja untrüglich auf und hat es wiederholt unter Beweis gestellt. Die Firma „Smile Smile Inc.”, die nach Mitarbeitern für digitale Online-Inhalte sucht, stammt freilich aus dem Roman „Content” von Elias Hirschl und stellt sich im Laufe des Romans als dystopische Welt heraus, in der das Sinnbefreite und Bedeutungslose an die Stelle des Miteinanders und der Lebenserfüllung getreten ist.
Den Titel „Content” (i.S.v. bloßer, virtueller Inhalt statt gelebter, erfüllender Wirklichkeit) deutete Wolf vom lateinische Adjektiv „contentus” her. Es bedeutet „zufrieden”, im wörtlichen Sinne aber „gehalten”, weil wir Menschen wohl eben dann Zufriedenheit erlangen, wenn wir Greifbares, Konkretes in Händen halten und uns dabei selbst sinnstiftend erfahren können. Denn wenn wir in Gelassenheit und zielorientierter Klarheit Herausforderungen annehmen, haben wir einen Kompass des Selbstwertes.
Das bestandene Abitur belegt eine solche Haltung. Wer die Schule als Labyrinth mit verrammelten Türen erlebt hat, kann jetzt – wie Ikarus (und hier schwenkte Wolf über auf Tonio Schachingers Sportlerroman „Nicht wie ihr”) – endlich ausfliegen, um sogleich wieder vor Höhenflügen zu nahe an der Sonne gewarnt zu werden. Aber in der Komfortzone zu bleiben, ist eben ein Merkmal von Tieffliegern. Es ist wohl besser, so Wolf, hoch hinaus zu fliegen statt unter dem Radar, um Vertrauen in die eigenen Kräfte zu bekommen und sich an die Grenzen zu wagen, die man erst dann richtig einschätzen und respektieren kann: Ein Weg, um als Mensch zu wachsen und „content”, also zufrieden zu werden.
Mit ein bisschen Statistik ging es dann über zur Zeugnisverleihung. Sechsmal wurde die Spitzennote 1,0 erreicht, 17 Mal gab es 1,5 oder besser im Schnitt und 28 Mal steht die „Eins” vor dem Komma. Alle, tatsächlich jede und jeder, haben das Abitur bestanden und der Jahrgangsschnitt von 2,06 dürfte bayernweit durchaus beachtlich sein – wenngleich die Vergleichszahl noch fehlt.
Die Aushändigung der Zeugnisse eröffnete nun den 57 Absolventinnen und Absolventen das persönliche Tor zur Allgemeinen Hochschulreife. Mit individuellen Worten und großer gegenseitiger Wertschätzung wurden jede und jeder Einzelne gewürdigt. In großer Zahl konnten auch wieder Anerkennungspreise vergeben werden: Für großartige Prüfungsergebnisse in Mathematik und Physik, Biologie und Sozialkunde sowie in Griechisch und Latein, wo Giustina Ujka als anfängliche Auslandsschülerin größte Anerkennung fand. Philipp Schwarz erhielt den vom Ehepaar Reisch gestifteten Musikpreis 2024 für sein Musizieren, Arrangieren, Dirigieren und Motivieren. Und der Sozialpreis 2024 des Elternbeirates, von 2. Vorsitzender Carolin Nordmeyer in einer packenden Laudatio gewürdigt, honorierte das große Engagement für wertschätzenden Kontakt, partizipativen Zusammenhalt und unersetzlichen Einsatz im Projekt „Mentale Gesundheit und Schule”, das Maximilian Mannel die letzten Jahre gezeigt hatte. Der Geehrte und der gesamte Jahrgang waren an dieser Stelle richtiggehend berührt von der Preisvergabe.
Feine Worte fanden auch Michael Tusch als Elternsprecher und Martina Wiegner als Kollegiumssprecherin. Tusch betonte die Freude über die herangewachsenen und selbstbewusst gewordenen Absolventen und die Dankbarkeit, vor allem gegenüber dem langjährigen Einsatz der Lehrkräfte. Dem Generationenforscher Rüdiger Maas folgend und Bezug nehmend auf das Zukunftsforum 2024 stellte er die Forschung dar, die der „Generation Z” vor allem diagnostiziert, dass ihre Eltern gerne in durchaus anbiedernder Weise lebenslange Freunde mit ihren Kindern sein wollen. Daher ermutigte er die Abiturientinnen und Abiturienten: „Geht euren eigenen Weg! Verlasst ausgetrampelte Pfade!” Und Martina Wiegner legte für ihre Verbundenheit mit den 57 Abgängerinnen und Abgängern ein beredtes Zeugnis ab in ihrem Text „Die 57 lustigen Spießgesellen”: Ungelogen jeder der 57 Familiennamen war da in einer Schmunzelgeschichte eingebaut, dass dem mucksmäuschenstillen Auditorium schier die Lachtränen kullerten.
Das letzte Wort und die letzte Tür sollen hier die Jahrgangssprecher Niclas und Luca haben: Gelassen nehmen Sie’s hin, dass nach ihnen das G8 beerdigt wird, erinnern sie sich doch auch mit einem gewissen Grausen an die „Vollbremsung” namens Corona. Ihr Dank galt den Lehrern für Vertrauen und Rückhalt, vor allem aber auch den Eltern und Mitabiturienten. Die ungewisse Zukunft sei verknüpft mit einem Neuanfang und viel Freiheit. Es gebe jetzt unzählige, individuelle Türen, jede und jeder öffne für sich jetzt eine andere Tür.
Und da war es wieder, dieses Motiv der Tür: War die Schule nun eine Art Verlies, dessen Türen sich endlich öffnen? Oder war die Schule ein sicherer Raum, dessen Türen sich nun endgültig abweisend schließen? St. Stephans Antwort war an diesem Tag nicht nur ein wunderbarer Sektempfang mit herrlichen Köstlichkeiten der Mütter von der „Gesunden Pause” in der nach allen Seiten geöffneten Kleinen Aula, sondern vor allem die Zusage, dass St. Stephan – wie schon die letzten acht Jahre – für alle auch weiterhin in großer Verbundenheit offene Türen hat.