„Homer und Hollywood“ – ein Abend der Extraklasse
Wer wüsste schon, dass die braungebrannten, sehnigen, kraftstrotzenden Unterschenkel des Achilles, die im Film „Troja“ in Großaufnahme zu sehen sind, wenn der Held Anlauf nimmt, um sich über seinen jeweiligen Gegner im Sprung hinwegzuschwingen und ihm im falkenartigen Herabstoßen das Kurzschwert final durch die Schulter ins Herz zu rammen, gar nicht Brad Pitt gehören, sondern mangels eigener geeigneter Exemplare einem Waden-Double? Wer hat je erfahren, dass derselbe Schauspieler sich bei den Dreharbeiten eine Verletzung an der Achilles-Sehne (!) zuzog, wodurch sich die ohnehin langen Dreharbeiten um weitere sechs Wochen verzögerten?
Kilian Hein weiß so etwas, weil er als Schüler im Griechisch-Leistungskurs bei St. Stephan eine letztlich sogar preisgekrönte Facharbeit im Fach Griechisch verfasste, bei der er sich zum Gegenstand seiner Forschungen die Frage gemacht hatte, inwieweit der Hollywoodfilm und Homers „Original“ einander gleichen, voneinander abweichen, ob beides überhaupt vergleichbar ist und wenn ja, unter welchen Gesichtspunkten. Das interessierte auch die aktuellen Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer des griechischen Oberstufenkurses, die den ehemaligen Stephaner am 16. Dezember 2022 eingeladen hatten, um sich die Ergebnisse seiner Forschungen anzuhören und entsprechende Filmausschnitte neben die jeweiligen Textstelle zu legen und in frischer Textkenntnis der Ilias Vergleiche anzustellen!
Wer nach Erscheinen des Streifens im Jahr 2004 die Reaktionen in den namhaften deutschen Feuilletons gelesen hat, erinnert sich an die aufgeregten Stellungnahmen in den Reihen der Gelehrten. Erste Reaktion: Verriss! Verriss! Verriss! Der Film hat ja nicht einmal Götter! Wer soll überhaupt dieser gepiercte Wrestler namens Boagrius am Anfang sein? Den gibt es gar nicht in der Ilias! Andere ließen immerhin gelten, es sei ja schön, dass auf diese Weise Homer endlich wieder für ein Massenpublikum interessant geworden sei – tatsächlich wuchs die Nachfrage nach der Ilias im Buchhandel nach Anlaufen des Films spürbar! Einer, der als der führende Homerforscher gelten durfte, nämlich der Gräzist und Schadewaldt-Schüler Prof. Joachim Latacz, hatte gar Lob für die Interpretation des Stoffes durch Wolfgang Petersen übrig, er hatte wohl an den zum Teil überschaubaren Leistungen einiger Schauspieler vorbei- und etwas genauer hingesehen …
Kilian Hein sah noch genauer hin, besorgte sich den Directors Cut und studierte den Film sozusagen mit der Ilias auf dem Schoß in Zeitlupe. Es gelang ihm, sich per Email mit dem Storyboardzeichner und sogar mit dem Regisseur Wolfgang Petersen persönlich über sein Thema auszutauschen. Dabei traten skurrile Details wie die eingangs erwähnten zutage, aber Kilian Hein erfuhr auch Bestätigung für einen Eindruck, der für ihn bei seinen akribischen Detailvergleichen immer deutlicher wurde: Petersen, der alle an der Produktion Beteiligten gezwungen hatte, die gesamte Ilias zu lesen, hatte durch verschiedenste filmische und redaktionelle Maßnahmen dafür gesorgt, dass in „Troja“ doch sehr viel Homer drinsteckt, aber auf eine Weise, die nicht nach Historienschinken mit Schauspielern in weißen Wallegewändern und an unsichtbaren Fäden aus dem Off herabgelassenen barttragenden Göttern aussieht, wie man das noch aus den 70ern kennt, sondern massentauglich und für ein auch altersmäßig möglichst breites, durchaus auch nicht humanistisch gebildetes Publikum der Nullerjahre nachvollziehbar.
Eine gewisse Authentizität entsteht tatsächlich immer wieder im Film, indem zwar auf Figuren wie Chryseis, Penthesilea, Kassandra und die Göttin Athene verzichtet wird, diese aber andererseits in der Figur des Beutemädchens Briseis für die Homerkennerinnen und Homerkenner vereint sind: Briseis übernimmt nämlich im Streit zwischen Agamemnon und Achill z. B. Athenes Rolle als Schlichterin, indem sie Achill davon abhält, dem unverschämten König das Schwert in die Brust zu rammen. Ihre Argumentation ist natürlich eine andere: der kitschverliebte Mainstream-Kinobesucher will hören, dass Briseis sagt, um ihretwillen solle niemand sterben, während im Original Athene dem myrmidonischen Helden vorrechnet, dass es sich für ihn eher auszahlen wird, Agamemnon leben zu lassen, in Streik zu treten und den Dingen ihren Lauf zu lassen, um am Ende abzurechnen und mit einem Schiff voller Trojabeute nach Hause zu fahren – dass es dazu nicht mehr kommen wird, ist Athene in diesem Moment natürlich piepegal.
Gleichzeitig erfüllt Petersen in derselben Szene mit einem dem original-unkundigen Publikum kaum sichtbaren, für die Homer-Eingeweihten aber deutlichen Detail den Wunsch nach Originaltreue: Im griechischen Text erlebt nur Achill die Anwesenheit Athenes, die anderen an der Szene Beteiligten bekommen sie nicht mit, für sie ist die Szene sozusagen „eingefroren“: genauso „eingefroren“ verharrt in „Troja“ Brad Pitt während der Rede der Briseis im Ausfallschritt mit der Hand am Schwert, mitten in der abgebrochenen Drehbewegung, die sich im Ziehen des Schwertes fortsetzen würde. Eine völlig unnatürliche und nebenbei unbequeme Haltung, die niemand so beibehalten würde, wenn er in seinem Angriff unterbrochen wird. Das archäologisch geschulte Auge könnte darin sogar das sogenannte „Knie-Lauf-Schema“ wiedererkennen, mit dem auf archaischen Reliefs eine in der Laufbewegung befindliche Figur abgebildet wurde. Exakt diese Pose ist im hier abgebildeten Mosaik zu sehen, das denselben Moment der besagte Szene schnappschussartig wiedergibt.
Man könnte die Reihe solcher Details lange fortsetzen, dafür ist aber hier kein Platz. Interessant zu erwähnen wäre aber noch, dass es Petersen erstaunlich gut gelang, Atmosphärisches in seinen Film zu transportieren und dass er dabei geniale Ideen hatte, auch eindampfend und komprimierend vorging, indem er die ganze abgeklärte, genervte, selbstverliebte, verächtliche und so coole! Haltung Achills gegenüber Agamemnon bereits in der Eingangsszene mit dem als Figur erfundenen, namentlich aber als Fluss in der Ilias erwähnten Riesen Boagrius verdichtet, wenn er ihn vor dem ihm anbefohlenen Zweikampf mit demselben zu sich selber sagen lässt: „Ein König, der seine Schlachten selber schlägt, das wäre doch mal was!“
Man könnte Kilian Hein tagelang zuhören, auch weil er ein geborener Entertainer ist! Wir danken ihm sehr für den zauberhaften Vortrag in seiner alten Schule, und dass es ihm selber immer noch so viel Spaß macht, „Troja“ und Homers „Ilias“ nebeneinander zu halten!
Kilian Hein (M.A.) ist Amerikaexperte und gibt Präsentationsschulungen für Führungskräfte: www.kilianhein.de