I am Hamlet – digital, innovativ, packend!
Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren in ihren Zimmern, auch das Publikum sitzt zu Hause, allein oder in Gruppen. Doch kaum beginnt das Theaterstück und die schwarzen Kacheln öffnen sich, verbindet alle das Videoportal – und vor allem die Magie des Theaters. Eine Erfahrung, die Corona dem Theater beschert hat, die nun hoffentlich bald der Vergangenheit angehört und dennoch auch faszinierende Blüten in der Theaterlandschaft getrieben hat.
Eine besonders prachtvolle Blüte, die mit ihrer Aura verstört und in ihren Kelch und Sog gezogen hat, hat heute die Theatergruppe von St. Stephan unter der Leitung von Elke Sandler im Rahmen einer Zoom-Videokonferenz präsentiert – und das Publikum war zurecht begeistert von der Konzeption des Stücks „I am Hamlet” und von der Stärke und Spielfreude aller Schauspielerinnen und Schauspieler. Alleine, ohne direkten Bezug zu einem Gegenüber so offen und intensiv zu spielen und mit den anderen zu agieren, als befände man sich auf derselben Bühne, vor dieser Leistung kann man nur den Hut ziehen.
Zentrale Motive von Shakespeares Klassiker „Hamlet” werden so herausgegriffen, dass ein Kaleidoskop entsteht, das wesentliche Facetten des Stückes erkennen lässt, die immer wieder ganz persönlich gebrochen sind: I am Hamlet. Wie kann es sein, dass meine Mutter so kurz nach dem Tod meines geliebten Vaters meinen Onkel heiratet? Wie schreibe ich Ophelia, dass ich sie liebe? Hat mich gerade wirklich der Geist meines Vaters aufgefordert, seinen Tod zu rächen? Die Welt ist aus den Fugen, nicht nur in diesem Stück – unser Planet steht vor dem ökologischen Kollaps. Unterschwellig und doch markant wird an diesem Freitagabend auch das Thema „Fridays for future“ ins Zentrum der Aufführung gestellt.
Impressionen des Stückes, die in Erinnerung bleiben werden:
Die abgrundtiefe Abscheu vor der eigenen Mutter, die den Mord an ihrem Gatten gutheißt, in den Worten Shakespeares und vermischt mit persönlichen Gedanken, die scheinbar spontan aus dem Bauch gesprochen werden. Wahnsinn erfasst Hamlet: Ein Fingerspiel in den einzelnen Kacheln lässt ihn entstehen und sichtbar werden. Ophelia beschließt ins Wasser zu gehen: Die Emotionen der gesplitteten Figur, die sich zuvor noch frisch verliebt für ein Date mit Hamlet schick gemacht hat, nun aber mit Zellophan umwickelt, gehen unter die Haut und berühren wie die Klageschreie des Bruders um den Verlust der geliebten Schwester. Im Hintergrund Bilder von der Verschmutzung der Meere und den Müllbergen in unserer Welt. Funkelnde Messerklingen in den Händen der Schauspieler vor dem Duell am Schluss, die Gesichter sind herangezoomt, die Münder stoßen Provokationen an den Gegner aus, jetzt doch zuzustechen, Wut und Aggression in den Augen, Worte, die in Geschrei kulminieren.
Zum Schluss die traurige Bilanz: Die Schauspielerinnen und Schauspieler zerreißen Namensplakate der Figuren, die das grausige Spiel um Intrige, Macht, Verrat und blinden Zufall nicht überlebt haben. Ein Gruppenbild, in dem noch einmal alle Gesichter ausdrucksstark zwischen den zerrissenen Hälfen der Seiten erscheinen. Jetzt heißt es für das Publikum: schnell die eigene Videokamera und das Mikrofon anzuschalten und für die technisch höchst reizvolle und grandios gespielte Performance tosenden Applaus zu spenden.