Kultur der Begegnung als Kultur der Freude
Abiturentlassung ist bei uns an St. Stephan traditionell kein Tag, sondern fast eine ganze Woche, in der die scheidenden Abiturientinnen und Abiturienten nochmals auf vielfältige Weise ihre „Duftmarke” hinterlassen dürfen. Am Dienstagmorgen ging’s los mit einem 90-minütigen „Abischerz”: Die gesamte Schulgemeinschaft fand sich auf dem Sportplatz, sämtliche Sitzmöbel des Hauses bildeten ein Odeon und eine Kette mit herrlichen Lehrer-Schüler-Spielen lief ab – von Schubkarrenrennen über Eierlaufen bis „Reise nach Jerusalem” und gemeinsamen Flashmob-Tänzen. Am Dienstagabend gab’s bei „Literatur lernt sprechen” im Kleinen Goldenen Saal den szenisch-literarischen Abschied und am Donnerstagabend den musikalischen Ausklang mit dem Abiturientenkonzert.
Der Entlasstag selbst, der Freitag, beginnt traditionell mit einem gemeinsamen Gottesdienst, den die Abiturientinnen und Abiturienten inhaltlich und musikalisch mitgestalteten. P. Emmanuel ging in seiner Ansprache mitten hinein in den Evangeliumstext vom „Salz der Erde und Licht der Welt”: Wir wissen uns als Menschen getragen und deshalb können wir uns auf Gottes Zusage einlassen, als aktive, kreative, schöpferische, lebendige und kraftvolle Partner unsere Welt und unsere Zeit mitzugestalten. Eine herzliche Einladung zum Leben an aufbrechende junge Menschen!
Danach trafen sich alle zum Jahrgangsfoto im Schulhof und versammelten sich dann mit ihren Eltern und Lehrern im Kleinen Goldenen Saal. Er hat bis heute nichts von seiner Magie, seiner würdevollen Heiterkeit und festlichen Gestimmtheit verloren, die diesen Festakt von einer Formalie in eine echte Begegnung verwandelt. Klemens Funk aus der Absolvia 1973 ermutigte in seinem Grußwort die jungen Altstephaner zur Begegnungsfreude, die aus allem Notwendigen und Pragmatischen erst das vertrauensvoll-humane Miteinander herausformt: Von Natur aus sind Begegnungen erst einmal mit Unsicherheit, Beschnupperungs-Bedürfnis und Misstrauen verbunden. Aber bereits eine offene Begrüßung, ein belebendes Wort macht aus dem Zusammentreffen eine echte Begegnung. Die Pflege dieser Kultur des Begegnens könnte unsere – von vielerlei Spaltungen durchzogene – Gesellschaft positiv fermentieren: Sich begegnen schafft Kontakt, soziale Verbundenheit, Zuversicht und Zukunftshoffnung. Und es ist keine Pflicht, sondern ein Vergnügen: Begegnungsfreude eben, die uns allen gut tut!
Christine Sommer, Vorsitzende des Fördervereins, lobte und empfahl die Kraft des Zufalls, dem oft genauso viel Kraft innewohnt wie dem Planvollen und Vorbereiteten. Da wirkte die anschließende Rede von Schulleiter Alexander Wolf wie eine Bündelung, der den Unterschied zwischen einer Chat-GPT-erstellten Rede und lebendiger Erinnerung, wahrer Tiefe und mit Humor gepaartem Ernst herausarbeitete: Statt zeitgeistiger „attitude”, „personality” und „confidence” empfahl er Kreativität, Urteilskraft und Verantwortungsbewusstsein. Er ließ die vielen Stationen nochmals aufscheinen, an denen die Absolvia 2023 ihre Spuren hinterlassen hat. Und er erinnerte an eine Inschrift im Kloster Melk in Österreich, die ihm beim Besuch des Benedctus-Wettbewerbs mit Valerie und Yuvin aufgefallen war: „Non coronabitur, nisi legitime certaverit.” – „Wer nicht rechtmäßig kämpft, wird keinen Siegeskranz erhalten.” (aus dem zweiten Paulus-Brief an Timotheus) Herausforderung, Fleiß und Beharrlichkeit sind keine verstaubten Tugenden, sondern beschreiben bis heute, wie Erfolg, Wirksamkeitserfahrung und Gestaltungskraft zu menschlichen Erfahrungen werden. Alexander Wolf endete mit dem Märchen vom „Hans im Glück”: Es erzählt, wie Zufriedenheit, Selbstvertrauen und Neugier mehr Glück verschaffen können als materieller Reichtum oder äußere Akzeptanz.
Die Übergabe der Zeugnisse ist das zentrale Ereignis und fand sehr persönlich und im Gefühl einer echten Begegnung und Verbundenheit innerhalb des Jahrganges statt. Der Schulleiter reichte das Zeugnis, oft mit einem sehr persönlichen Gedanken, die Goldenen Absolvia reichte feine Pralinen. Abgerundet wurde dieser Formalakt mit Ehrungen: Zahlreiche Preise wurden vergeben für Mathematik, Physik, Latein und Griechisch. Besonders traten in diesem Jahr aber drei schulinterne Würdigungen ins Licht: Den Musikpreis erhielt Madeleine Schwer für ihr herausragendes Engagement als Sängerin wie als Organisatorin im Konzertbereich. Den Sozialpreis des Elternbeirates überreichte Michael Tusch, der 1. Vorsitzende des Elternbeirates, an Yuvin Kwon, der als Schulsanitäter und unablässiger stiller Helfer aus dem Hintergrund heraus unendlich viel Gutes geleistet hat. Und einen ganz einmaligen Sonderpreis des Direktorates, den „pro industria”-Preis für Tüchtigkeit und unversiegbare Energie, durfte Florian Simmons entgegennehmen. Über viele Jahre, zuletzt als Kopf der Technikgruppe, hat er technische und digitale Herausforderungen in herausragender Weise mit seinem Können angenommen und gemeistert und vielen Veranstaltungen der Schule zur Realisierung verholfen.
Für ihre eigene Rede schickte der Jahrgang Chiara König, Leander Weide und Finn van de Beek aufs Podium. Die drei präsentierten launig-hintergründig einen „Durchzieher” durch die letzten Jahre und kommentierten ihre Coronaerfahrungen („Hausaufgaben sind Beschäftigungsvorschläge”), die Digitalisierung an Schulen („Simmons, rette den Ruf des Digitalen!”) und den Drang nach Prüfungsprokrastination („Phase eins vor Resignation”). Ihre Verbundenheit mit St. Stephan wurde sichtbar, als sie von ihrer „Zukunft da draußen” sprachen.
Für die Eltern durfte Astrid Gabler das Wort ergreifen und entwickelte den Gedanken der „Grenzerfahrung”: Schule ist ein Ort der Ermutigung und zugleich der aufgezeigten Grenzen. Aus dieser Spannung erwachsen Respekt, Toleranz und Empathie, die der Abiturjahrgang 2023 in seinem Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt bereits bewiesen hat. Zum Schluss trat Frank Hübl, der Oberstufenkoordinator des Jahrganges, ans Mikrophon und bündelte in vier Imperativen seine Zukunftswünsche für die Absolventinnen und Absolventen: „Seid neugierig! Traut dem Scheitern! Hinterlasst Spuren! Seid authentisch!”
Musikalisch begleitet wurde die stimmige, gehaltvolle und zugleich sehr heitere Feier von den Abiturientinnen und Abiturienten selbst: Feine und berührende Gesangs- und Instrumentalbeiträge in unterschiedlichen Temperierungen zeigten auf ganz unverstellte Weise die homogene Vielfalt dieses Jahrganges.
Und nach all diesen Begegnungen im Kleinen, auf gedanklicher und emotionaler Ebene, entfaltete sich die finale Begegnung in der Kleinen Aula, wo die Mütter der „Gesunden Pause” ein herrliches Buffet aufgebaut hatten. Aus den Gedanken von Klemens Funk wurde Wirklichkeit: Die Begegnungsfreude zwischen Eltern und Eltern, Eltern und Absolventen, Eltern und Lehrern, Lehrern und Schülern … zeigte sich in zahlreichen Gesprächen und Kontakten. Abschied und Aufbruch gerannen in diesem Begegnungsfenster zu Verbundenheit, Dankbarkeit und Zusammengehörigkeit, zu einem Vergnügen: Begegnungsfreude eben, die uns allen gut tut!