Literatur lernt sprechen 2015
Es ist nie zu spät …
… um sprechen zu lernen. Was auch heuer wieder im Titel des literarischen Abschiedsabends der Abiturienten (23. Juni 2015 im Kleinen Goldenen Saal) von der Literatur gesagt wird, gilt natürlich und eigentlich auch von denjenigen, die ihr dabei die Stimme leihen. Und “sprechen lernen” ist gewiss eines der entscheidenden Bildungsziele des schulischen, zumal gymnasialen Weges. Hierbei geht es freilich nicht in erster Linie um die Artikulation im ursprünglichen Sinne des Wortes, wenngleich sich an einem solchen Abend immer auch zeigt, welch großes Geschenk es ist, mit Sprache einen Raum füllen und die Zuhörer zuerst akustisch erreichen zu können, und wie sehr es der konsequenten Pflege bedarf.
Sprechen lernen heißt sich ansprechen lassen
Aber “sprechen lernen” meint hier ja auch die Fähigkeit, sich verständlich zu machen, sich mitzuteilen und damit Zusammenleben ermöglichen zu können. Welch herrliche Möglichkeit die Literatur dafür bietet, konnte der Abend vor einem üppig gefüllten Kleinen Goldenen Saal wiederum zeigen. Die Identifikationsmöglichkeit, die ein Text jedem Leser und Hörer anbietet, kommt dabei stets aufs Neue und immer ganz anders zum Blühen. Die von den Abiturienten gewählten Texte werden ebenso lebendig, wie diejenigen von ihnen geprägt und gezeichnet werden, die sie ausgewählt haben und zum Klingen bringen, die sie hörbar, sichtbar und erlebbar machen.
Streifzüge durch alle Epochen und Sprachen
Das Programm streift dabei alle Epochen und Sprachen, Textsorten und Inhalte, die man sich nur vorstellen kann. Lateinische Verse und Proömien stehen neben Gedichten, Redeteilen, essayistischer Prosa und Dramoletten. Jugendbücher, Weltliteratur und Selbstgemachtes wechseln einander ab. Fiktive Nonsens-Welten und Humor jedweder Couleur stehen unmittelbar und schroff neben Aussagen, die als brutale Realität dokumentarischer Literatur die Fiktion zum frommen Wunsch machen; den Gesichtszügen des Publikums wird buchstäblich ihr ganzes Spektrum abgefordert. Ein paar Namen: Caesar und Churchill, Kurt Tucholsky und Peter Weiss, Hugo und Goethe, Julia Engelmann und Robert Spaemann – daneben Texte der Akteure selbst, eine stattliche Gruppe von gut zwanzig Schülerinnen und Schülern, flankiert von Mitschülern aus der Mittelstufe und in bewährter Weise von ihrem Lehrer Matthias Ferber wohlwollend begleitet.
Im Zusammenspiel der Künste
Und wie könnte es an St. Stephan anders sein? Immer schaut auch die Musik mit herein und lässt erkennen, wie sehr die Sinne und Künste zusammengehören: Literatur, Sprache, Musik und bildende Kunst: Das eine ist ohne das andere nicht zu haben (bestenfalls bei erheblicher Qualitätsminderung). Selten je geben Schüler so viel von sich preis: Erstaunlich, wunderbar und wunderlich zugleich, manchmal vielleicht auch befremdlich, was da wieder zu lernen ist über die Befindlichkeit derjenigen, die nun acht Jahre an unserer Schule gelernt haben, über die große Kunst und Chance, auch in zunächst fremden Texten sich wiederzufinden, sich an ihnen zu reiben und sich selbst durch sie auszudrücken und sich diese Texte so anzueignen.
Spiel- und Lebensfreude
Und das Publikum? Auch ihm ist wieder Gelegenheit gegeben, sehen, hören – sprechen zu lernen. Wieder, immer noch, weiterhin. Bester Beweis dafür sind die Akteure selbst. Was für ein neuer Blick auf manche Schüler! Noch drei Tage vor ihrer Entlassung zeigen sie, wie und was sie auch noch können – nicht wenige selbst noch sichtlich verwundert, vielleicht sogar ein wenig verstört darüber. Eine leise Ahnung also ist es vor und vor allem auf der Bühne, wo Spiel- und Lebensfreude mit Händen greifbar sind, und vielleicht erlebt-erlittenes Wissen im Publikum: Zum Lernen ist es nie zu spät – und das Abitur ist erst der Anfang!