Mythos-Seminar Sudelfeld: Von Aktaion bis Lederhose
Am Tag der Abgabe zur Anmeldung für das Mythos-Seminar, ein Angebot für alle am Altgriechischen interessierten Schülerinnen und Schüler in Bayern, rief uns abends ein aufgekratzter Lehrer an, der noch Teilnehmende suchte. Natürlich erklärten wir uns mit größter Freude dazu bereit, über ein Wochenende mit zwölf anderen Schülerinnen und Schülern aus ganz Bayern ins Sudelfeld zu fahren.
Am Freitagmorgen trafen wir uns um 8.45 Uhr am Münchener Hauptbahnhof, von wo aus wir mit einem Kleinbus in die Jugendherberge in der Gegend Bayrischzell aufbrachen. Nach einer kurzen, äußerst freundlichen Aufklärung über die dortige Hausordnung bezogen wir unsere Zimmer und aßen zu Mittag. Im Folgenden startete das eigentliche Programm: Von einer jüngeren, aber fast so motivierten Version unseres Griechischlehrers, dem Leiter des Camps, Ulrich Vogel, bekamen wir ein fünfzigseitiges Unterstützungsmaterial in Form eines Readers ausgeteilt. Als konkreten Einstieg warfen wir einen genaueren Blick auf den Aktaion-Mythos, an dem man beispielhaft den Wandel eines Mythos in den verschiedenen Epochen erkennen kann. Dieser erzählt von dem Jäger Aktaion, der der ersten Fassung nach vor Artemis geprahlt hatte, er könne besser jagen als diese, in der zweiten soll er sie beim Baden gesehen haben. In beiden Varianten wurde er von der Göttin bestraft, indem sie ihn in einen Hirsch verwandelte, woraufhin ihn die eigenen Hunde zerfleischten.
Als weiteres Material betrachteten wir Abbildungen auf Vasen aus der frühen Archaik, dort machten wir erstaunliche Entdeckungen: Im Moment seines Todes war Aktaion keinesfalls als Hirsch dargestellt, sondern noch in Menschengestalt. Zur Erklärung dieses Phänomens zogen wir Walter Burkerts Interpretation altgriechischer Opferriten und Mythen „Homo Necans“ zu Rate, dessen sechzigseitiger Textauszug uns höchste Erquickung und Erkenntnis bereitete, da Burkert darin ausführte, dass der Mensch, der zwar das meisttötende Lebewesen der Welt ist, die körperliche Veranlagung dazu aber nicht hat, versucht, das Töten durch Rituale und Mythen zu rechtfertigen und es so psychologisch zu verarbeiten.
Anschließend verschafften wir uns einen Überblick über die wichtigsten Mythen aus dem griechischen Sagenkreis, wobei auffiel, dass überraschend wenige Mythen über die Entstehung der Welt und über die Götter existieren, sondern vor allem Erzählungen rund um den Trojanischen Krieg und andere Heroengeschichten. Dazu übersetzten wir einige griechische Originaltexte z. B. von Homer und erfreuten uns an den wundervollen Hexametern, nach denen wir uns ein reichhaltiges Abendessen verdient hatten. Sodann durften wir unseren Abend selbst gestalten, was wir für eine zweistündige Wanderung in den umliegenden Bergen nutzen.
Der nächsten Tag des Seminars startete mit einem leckeren Frühstück. Im Anschluss versammelten wir uns aufgrund des guten Wetters draußen und gingen auf die Herkunft von Mythen ein, welche entweder indogermanisch, aus dem Orient oder frei erfunden sind. Zur Verdeutlichung befassten wir uns wiederum mit griechischen, lateinischen und auch babylonischen Texten, die allesamt einen sehr ähnlichen Kern aufzuweisen scheinen.
Nach einer kurzen Pause beschäftigten wir uns mit den verschiedenen Auffassungsformen von Mythen. Dabei arbeiteten wir in Gruppen folgende Aspekte heraus: Während Platon in seinem Lehrbuch „Der Staat“ die Meinung vertrat, dass Mythen der Gesellschaft schadeten und diese deshalb abgeschafft werden müssten, gab es damals auch andere Einstellungen zum Mythos: Rationalisierung, also die Herausarbeitung des realistischen Kerns; Allegorie, den Mythos also als Metapher anzusehen und ihn dementsprechend anders zu interpretieren; oder auch die komplette Wörtlichnahme des Mythos.
Als letzten Aspekt betrachteten wir wiederum in Gruppen „moderne Mythen“: Dabei befassten wir uns mit den Mythen des Nationalsozialismus, die natürlich in erster Linie zur Propaganda dienten, aber auch mit den Mythen um Karl den Großen und sogar um die bayrische Tracht. Als gemeinsamer Abschluss wurden am Abend Frisbee und Tischtennis gespielt.
Nach dem Frühstück am nächsten Tag fuhren wir, begleitet vom wunderbaren Gesang unserer Zimmergenossinnen, schon um 9.00 Uhr nach München zurück, und besuchten, zwar außerhalb des Programms, aber mit sehr viel Enthusiasmus, als krönenden Abschluss das „Haus der Kunst“ in München (was wir allen begeistert ans Herz legen können).