„Or o sun, dy gepott des maisters“ – Stift Melk und die Regula
Alle drei Jahre lädt der Abt des Stifts Melk zum Benedictus-Lateinwettbewerb, alle drei Jahre treffen sich Jugendliche aus über 30 Benediktiner- bzw. Ordensgymnasien Österreichs und Deutschlands im ältesten bestehenden Gymnasium Österreichs und beschäftigen sich mit Texten aus der Regula Benedicti sowie den Dialogen Gregors des Großen – alle drei Jahre bedeutet dies aber für die begleitenden Lehrkräfte auch die Möglichkeit zum fachlichen und kollegialen Austausch.
2022 fand der Wettbewerb nun zum neunten Mal statt und man wähnte sich als Begleitlehrer im barocken Ambiente des Stifts fast wie bei einem Partnerprogramm während eines politischen Gipfels: Abt Georg begrüßte uns im Festsaal der sogenannten Prälatur, der ehemaligen Wohnung des Abtes, der zugleich den Rang eines Prälaten innehatte, und verweis mit einem Schmunzeln darauf, dass er an diesem Ort sonst nur Präsidenten, Nobelpreisträger und andere Honoratioren empfange. Passenderweise zeigt auch das Deckenfresko dieses Saales den Heiligen Benedikt, wie er auf einem Triumphwagen Einzug hält, der von Vertretern der damals bekannten vier Kontinente gezogen wird.
P. Ludwig führte uns zu einigen loca secreta, außergewöhnlichen und interessanten, aber normalen Gästen stets verborgenen Räumen des Stifts. Dazu zählten Gruft und Beinhaus der Mönche, die ehemaligen Kerkerräume des Klosters, in denen früher nicht nur weltliche, vom örtlichen Marktrichter verurteilte Verbrecher eingeschlossen wurden, sondern bis in die Mitte des 20. Jahrhundert auch Mönche unter Arrest gesetzt wurden, denen man sonst im Konvent nicht mehr habhaft werden konnte, sowie das sogenannte „Musikanten-Juchee“, ein oberhalb des Marmorsaals angrenzender Raum, in dem bei Festen die Musiker aufspielten und durch Öffnen und Schließen der Fenster die Lautstärke für die Gäste im Saal reguliert werden konnte. Ganz in barocker Tradition waren sämtliche Ornamente und Gemälde in diesem Raum aus der Perspektive des Festsaales gemalt, was beim Betrachter im Musikanten-Juchee selbst wegen der verzerrten Darstellung den Eindruck erweckte, nicht ganz nüchtern zu sein …
Höhepunkt war aber ein Einblick in die Stiftsbibliothek durch Mag. Bernadette Kalteis, die für uns eigens einen sonst nicht für die Öffentlichkeit zugänglichen Leseraum im Obergeschoss öffnete und einige wertvolle Handschriften zur Regula Benedicti aus dem über 100.000 Bände umfassenden Bestands präsentierte, darunter eine zur Zeit der Gründung des Stifts Melk im Jahr 1089 genutzte Pergament-Handschrift. Dieses für Reisezwecke recht handlich gehaltene Exemplar kann auf das ausgehende 11. Jahrhundert datiert werden, was den Schluss zulässt, dass diese Regula-Ausgabe entweder von den Mönchen des Stifts Lambach mitgebracht wurde oder eine der ersten Schriften darstellt, die im neu gegründeten Kloster entstanden sind. Die Kommentare rechts aus dem 15. Jahrhundert zeugen davon, dass dieses Schriftstück über viele Jahrhunderte genutzt, gelesen und diskutiert wurde. Weitere prachtvoll mit Malereien und Blattgold ausgestaltete Handschriften mit der Benediktus-Regel aus dem 12. und 14. Jahrhundert belegen die Tradition des Ordens und des Stifts ebenso wie eine barocke Ausgabe, in der jedes Kapitel mit einem fein von Hand gezeichneten Tondo passend illustriert wird, sowie ein weiteres Reisehandbuch aus dem 12. Jahrhundert, das eine frühneuhochdeutsche Übersetzung der Regel enthält und damit Grundlage vieler weiterer Anstrengungen war, die Inhalte bis heute auch einem nicht des Latein mächtigen Personenkreis zugänglich zu machen.
„Ausculta, o fili, praecepta magistri“, „Or o sun, dy gepott des maisters“ oder „Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters“ – allgegenwärtig in Texten, Bildern, im Erleben der Mönchsgemeinschaft und der bei strahlender Herbstsonne umso prachtvolleren Anlage des Stifts war somit für die Schüler wie auch für uns Begleitlehrer die seit über 1000 Jahren währende Regula Benedicti.