So ist’s Brecht!
Eine Hochgeschwindigkeitsfahrt in die „finsteren Zeiten“ der deutschen Geschichte, einen bis heute beklemmenden Blick in die unsichtbaren Innenseiten des Nationalsozialismus: Das bot der Profilkurs unseres Oberstufentheaters gleich zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres.
Aus Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, einer losen Szenenfolge über Beklemmung, alltägliche Doppelbödigkeit und seelisch-moralischen Verfall in Hitlerdeutschland, hatte die neunköpfige Gruppe eine kluge und eindringliche Auswahl von Szenen getroffen. Als Titel hatte das Team seinem Abend ein Zitat gegeben: Reden wir nicht von Unglück – „Reden wir von Schande“. Das Motto dieser gedanklichen Umwidmung konnte die Gruppe geradezu traumtänzerisch realisieren: Auf der Bühne gibt es keine Opfer, die Mitleid verdienen, sondern Mitläufer, die wissen, dass sie Opportunisten sind, Verängstigte, die ihr Gefühl bekämpfen statt der Angstauslöser, Gejagte, die sich nur zu gerne jagen lassen.
Wie setzt man derartige Doppelbödigkeit spielerisch um? Die Auftaktszene zeigt es bereits in berückender Eindringlichkeit. Jede Person, die sich einreiht in das Tableau der „Deutschen“, zeigt eine Übersprunghandlung: Nasereiben, Händekrampfen, Zupfen am Gewand … – die verunsicherten Körper sprechen, bevor der erste Satz ertönt. Und dies alles vollzieht sich in einem Rhythmus, in einer absichtslosen Choreographie der gegenseitigen Belebung der Spieler, die durchaus langsam, aber nicht behäbig, durchaus reflektiert, aber nicht verkopft wirkte. Von Beginn an war zu spüren, dass dieses Spielteam über ein Höchstmaß an Vertrautheit untereinander und über ein Maximum an Spielbewusstsein verfügt.
Das Mittel der Wiederholung und Vervielfachung trug zu einer atemlosen Dichte, einer ungebrochenen Intensität des Erlebens bei, wodurch sich viele Gedanken, Sätze und Botschaften vom rein Erzählend-Darstellenden ins Eindringende verwandelten. Dreimal zu hören, in raschen Stimmwechseln, in wechselnden Sprechrichtungen, wie der erste Bäcker eingebuchtet wurde, weil er keine Kleie ins Brot mischte, der zweite aber, weil genau dies vor Kurzem noch Lebensmittelfälschung war, verändert die Wahrnehmung. Aus Logik wurde da Anklage, ohne Zeigefinger und Besserwisserei.
Zudem hat diese Gruppe packende Charakterköpfe: Ein „Dicker“, dessen ekelhafte Gedichtabfrage jedem Zuschauer richtiggehend körperlich zusetzt. Jüdische Frauen, deren Einverständnis mit der karrierebedingten Verstoßung durch den Chefarztgatten durch Mark und Bein geht. Spitzel im Büro des Naturwissenschaftlers, die unsichtbar in Taschen greifen, Bewegungsräume einschränken, auf beklemmend abwesende Weise anwesend sind. Die Angst um den Buben, der bestimmt auf der Straße zu viel über die hinter verschlossenen Türen geäußerte Regimekritik ausplaudert, und dann doch nur beim Schokoladekaufen war. All dies zeigte die Theatergruppe unter Leitung von Elke Sandler mit einer Selbstverständlichkeit, Intensität und Gemütsdurchdringung, die mir das Prädikat „großartig“ entlockt. Hier wird keine Botschaft verfolgt, sondern die Darstellung. Keine Absicht, sondern Spiel. Kein Thema, sondern eindrückliche Augenblicke.
Die Bühne ist kahl, es herrschen Funktionsmöbel vor wie Kleiderständer, Stühle und Wände. Dadurch werden Tücher, Taschen, Jacken und Schuhe, ja sogar Frisuren und Brillen zu immensen Bedeutungsträgern. Licht und Requisitenfarben haben sprechende Qualität, bündeln Aufmerksamkeit und Intensität. Alle Spielerinnen und Spieler dieser Gruppe wissen, was man durch Körpersprache aus einem Stuhl herausholen kann!
Zum packenden Schluss kam dann noch ein Weill-Song, an der Rampe chorisch gesungen, über „Des Soldaten Weib“: Schlussendlich mündet die alltägliche Verstummung, das demütige Einverständnis mit einem beklemmenden Régime in die kleine, tödliche Bestechlichkeit der Ahnungslosen. Stöckelschuh‘ aus Prag, Pelzkragen aus Oslo, Seidenkleid aus Paris … Das Publikum zog förmlich mit Hitlers Truppen hinaus auf die Schlachtfelder und holte sich die Trophäen mit ab. Doch was bekam des Soldaten Weib zuletzt aus dem weiten Russland? Den Witwenschleier zur Totenfeier. Wie in einem Brennglas wird deutlich: Ja, Beklemmung hat einen teuren Preis. Ja, was Brecht schon 1937 erspürt und niedergeschrieben hat, hat seine logische Konsequenz im Verbluten Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.
Dies alles sehr selbstverständlich gezeigt und spürbar gemacht zu haben, ist das große Verdienst unserer Oberstufentheatergruppe. Mehr noch als der 1. Preis beim diesjährigen Augsburger Brechtfestival (im Rahmen eines Schülerwettbewerbs) spricht für diesen starken Abend ein gebanntes, stummes, ergriffenes Publikum! Brecht auf berührende Weise! Vielen Dank!