… so kennst du auch nur einen Autisten!
„Semper apertus – Immer offen“: Auf dieses Motto der Universität Heidelberg bezog sich Julian Leske bei seinem Vortrag in St. Stephan über ein Leben mit Autismus. Der 33-jährige Verwaltungsbeamte lässt sein Augsburger Publikum an diesem Abend spüren, wie sich diese Offenheit konkret zeigt, der er sich als Autist mit der Diagnose “Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS), die er erst mit 16 Jahren erhielt, verschrieben hat.
In seinem rund einstündigen Vortrag, den er sehr unmittelbar, lebendig und nah am Publikum hielt, tat er dies auf zweifache Weise: Er ließ sein Leben für die zahlreich erschienenen Zuhörer Revue passieren und nahm daraus eine Fülle von grundsätzlichen Ableitungen vor.
Spürbar wurde dabei ein wacher, aufgeweckter Geist, der auch andere anzustecken vermag und gleichzeitig sehr bewusst mit seinen individuellen Vorlieben und Bedürfnissen umgeht. So steht er sehr bejahend zu seinem Minus in der Beherrschung der Mathematik und fühlt sich zugleich zu rationalen, nüchternen Menschen hingezogen, wie es für ihn etwa Juristen verkörpern. So liebt er Paragraphen, Amtsbezeichnungen und Titel, genießt aber gleichzeitig bei Zugfahrten das Ineinander von Ruhe im Sitzen und schnellen Techno-Beats im Kopfhörer.
Wichtig ist ihm der Umgang mit Menschen, denen er zugewandt und aufgeschlossen begegnet. Zugleich bereitet er sich auf Begegnungen akribisch vor, recherchiert zu Personen im Internet und kann ihnen so auf einem stabilisierten Fundament gegenübertreten. Mit Ironie, Sarkasmus und Zynismus tut er sich schwer, weil diese Doppelbödigkeiten für ihn nicht eindeutig zu entkoppeln sind, zugleich beobachtet er bei sich selbst, wie er Ironie in seinen eigenen Vorträgen mittlerweile selbst zum Einsatz bringt. Seinen Autismus bezeichnet er selbst als „soziale Sehschwäche”, deretwegen er manchmal Zeit brauche zum „Scharfstellen” in einer sozialen Situation.
Seinen Weg, das betont Julian Leske wiederholt, konnte er vom „Schulversager“ zum Verwaltungsbeamten in einem Bonner Bundesministerium gehen, weil er immer wieder auf Menschen traf, die ihm Hilfe, oft auch gepaart mit Herausforderung zukommen ließen: Das ging vom Lernen lebenspraktischer Fähigkeiten wie Schuhebinden, Semmelnaufschneiden oder Uhrenlesen bis hin zu Lehrkräften und Ausbildern, die ihn in seiner Sondersituation achteten und situativ reagierten.
An den abwechslungsreichen, von Tiefgang wie Leichtigkeit geprägten Vortrag schloss sich eine offene Gesprächsrunde an, in der die Zuhörerschaft, darunter auch viele Betroffene und Eltern von heranwachsenden Autisten, Leskes Einschätzungen und Erfahrungen abfragten. Es ging um Fragen der Anerkennung eines Behindertenstatus, aber auch um den Umgang mit depressiven Epsioden, Burnout-Erfahrungen und Phänomene wie die Tag-Nacht-Umkehr. Julian Leske konnte zu nahezu allen Aspekten unmittelbare Erfahrungen beitragen und Mut machen.
Tipps dagegen gab er nicht, denn dafür ist die „Spektrumsstörung“ Autismus viel zu facettenreich und individuell. Zum Tragen kam dies im berühmten und erhellenden Satz des amerikanischen Autismus-Forschers Stephen Mark Shore: „Kennst du einen Autisten, so kennst du auch nur einen Autisten.“