So viel auf dem Kasten!
Eine „Karawane“ zieht aus dem Eingangsbereich des Kleinen Goldenen Saals ein und zitiert dazu den gleichnamigen Titel des Mitbegründers der Dada-Bewegung Hugo Ball. Schon lernt das Publikum die couragierte 13-köpfige Schauspielgruppe kennen, die sich als frischgebackene Abiturientinnen und Abiturienten unter der Leitung von Matthias Ferber auf den Weg gemacht hat, die Weiten der Literatur zu ergründen und dem Publikum gehalt- und lustvolle Kostproben aus ganz unterschiedlichen Werken zu präsentieren.
Noch zweimal wird das Spektakel dieses schrägen und ekstatischen Einzugs erfolgen, sodass man als Zuschauer diesen einen roten Faden des Abends erkennt und schließlich das Gefühl hat, diese „Verse ohne Worte“ wie einen Text in Normalsprache zu verstehen.
Doch es gibt einen zweiten Orientierungspunkt, welcher den bunten und so vielseitigen Reigen der einzelnen Darbietungen verbindet. Ein Gerät des Schreckens aus dem Sportunterricht: der Kasten. Oder besser gesagt zwei Kästen, die als ganze oder in ihre Einzelteile zerlegt dem Abend immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes einen Rahmen geben.
Schon trägt Maximilian Mannel die ersten Kastenteile herum, der als Hausmeister die Aufgabe hat, den Schnelldurchlauf von „Faust. Der Tragödie erster Teil“ auch wirklich in den zehn dafür eingeplanten Minuten ablaufen zu lassen. Mit Freude auf seinen eigenen Wissensschatz hört nun das Publikum zentrale Sätze aus dem Werk und staunt über die Wirkung der geplotteten Handmasken, die sich die Schauspieler vor das Gesicht halten. Ein Schluck aus einer grünen Pulle, ein Drehen der Maske – und schon ist Faust verjüngt und kann Gretchen nachstellen, das durch das behände Eingreifen des Hausmeisters bald im Gefängnis aus Kastenelementen steht und pünktlich „gerichtet“, nein! „gerettet“ ist.
Mephistophelisch geht der Abend weiter, wenn Maximilian, seiner Hausmeisterkluft entledigt, Paul Cornels „Der Teufel“ singt und Vincent Fendt als „Macbeth“ seine Hände betrachtet, auf denen er das Blut seiner Morde kleben sieht, das seine Gattin nicht mit ein wenig Wasser wird abwaschen können.
Die Kästen zeigen nun immer mehr ihr Potential als Bühnenrequisiten, wenn sie eine Langbank tragen, auf der nun Yannick Ulbrich als Thiel, Moritz Blank als Gregor Samsa und Luca Wiegmann als Walter Faber beklemmende Texte vortragen, die um das Thema Tod kreisen. Bald werden zwei Kastenteile zu Fenstern, durch welche Diana Geßler als Marie und Claire Leicht als Margarete den Tambourmajor vorbeiflanieren sehen, wobei die Texte aus Büchners „Woyzeck“ aus dem Off gesprochen werden.
Ein Highlight des Abends erfolgte in einem zweiten Durchlauf dieser Szene. Pater Emmanuel betritt die Bühne, nicht um das Publikum zu begrüßen, sondern um, wie das Programmheft verrät, als „der Jugendsprache höchst unverdächtig“ die Fensterszene nun im Jargon der Jugendsprache vorzutragen. Diesen Text, bei dem sich die Zuschauer vor Lachen kringelten, hochseriös und ohne eine Miene zu verziehen vorzutragen, darf als schauspielerische Meisterleistung gelten.
Dieses Lob ist aber auf die ganze Gruppe zu übertragen, die sich bei der Vielzahl der dargebotenen Szenen durchaus in einen Rausch spielte und sich als dynamische und harmonische Einheit erwies. Ein wichtiger Bestandteil des Abends waren auch selbst geschriebene Texte und Gedichte, die von der Gruppe szenisch untermalt wurden: Luca Wiegmanns „Wind“ wird zu einem Symbol der aktuellen Bedrohung der Menschheit durch den Klimawandel, dem der Einzelne nicht tatenlos gegenüberstehen darf. Yannick Ulbrich führte anschaulich vor, wie „Das leere Blatt“ einen zermürben kann, Niclas Grünes pries seinen „treuen Helfer“, den Wäscheständer, und Moritz Blank machte durch einen grandiosen Vortrag seinem Text „Abstrusität“ alle Ehre.
Einen so langen und vielseitigen Theaterabend wird man nicht in jeder Einzelheit beleuchten können, unbedingt erwähnt seien aber die stark und bewegend inszenierten und intensiv gespielten Ausschnitte aus dem „Sandmann“, eine Szene die wirklich ins Auge stach und unter die Haut ging. Nach der Pause zog das lebendige Gruppenstandbild der dekadenten, eindrucksvoll kostümierten Schar um „The Great Gatsby“ den Zuschauer in seinen Bann und die plötzliche Interaktion des scheinbaren Szenehintergrunds mit dem als Erzähler fungierenden Nick Carraway, dessen Text Luca Wiegmann auf Englisch sprach.
Dieser vermeldete auch die aktuellen Nachrichten über den Tod Homers und die Bedeutung seines Werkes, bevor Moritz Blank bei einer Außenschalte mit vom Wind zerzausten Haar das Proömium von Homers „Odyssee“ auf Altgriechisch vortrug.
Doch der Abend bot noch weitere Facetten und es ist an der Zeit, die Rolle der Musik zu würdigen. Diana Geßler sang „Das Boot ist voll“ von Singer-Songwriter Faber und begeisterte dabei das Publikum. Den Text wird man sich wohl noch einmal in Ruhe zu Gemüte führen müssen, um seine Aussage bewerten zu können. Philipp Schwarz begleitete sie dabei am Klavier, der auch an anderen Stellen seine Virtuosität an diesem Instrument unter Beweis stellen konnte.
Bei Bodo Wartkes „Die Grätchenfrage“ übernahm seinen Part Moritz Blank, der nach einer Einführung in Schönbergs Dodekaphonie diese Glanznummer des Musikkabaretts humorvoll und souverän bot, die von Merlin Greve als Gast und Luca Wiegmann als Kellner sehr gewitzt mimisch unterlegt wurde. Der Abend endete mit der beliebten Szene aus Shakespeares „Sommernachtstraum“, in der die Handwerker ihre Version von „Pyramus und Thisbe“ aufführten und dem Publikum damit einen sehr fröhlichen Abschied bereiteten.
Dieses dankte den Schauspielerinnen und Schauspielern sowie dem Spielleiter Matthias Ferber mit verdientem und begeistertem Beifall. Diese Gruppe hat nicht nur einen Kasten, sondern sie hat wirklich etwas auf dem Kasten!