So viel auf dem Kasten!

  • Ganz von hinten heraus rollte das Team der Abiturientinnen und Abiturienten bei Literatur lernt sprechen 2024” das Programm auf: Gleich startet eine Karawane” nach Texten des Dadaisten Hugo Ball.
  • Zuvor muss aber noch der überdimensionierte Wanderrucksack auf Reisen gehen: Im Anfang war das Wort” hatte er zu Beginn gesprochen.
  • Mit Goethes Faust” setzte das Bühnenprogramm ein: Mephisto tritt vor Gott Vater – und Faust wird in den Blick genommen.
  • Als Maskenträger sind den Menschen die Hände gebunden” – doch Hausmeister Max hat alles im Griff – hier den Spiegel in der Hexenküche”, wo Faust dem schönen Gretchen begegnet.
  • Die Anbahnung der Bekanntschaft zwischen Faust und Gretchen beginnt – im Garten der Nachbarin Marthe.
  • Die Gefechtsszene zwischen Faust und Gretchens Bruder Valentin verlangt dem Hausmeister wieder alles ab – und Gott hat sein Toupet abgenommen …
  • Scheinbar endet das Elend Gretchens zuletzt im Kerker, aber gleich wird Gott Vater seinen himmlischen Ausguck” verlassen und das Menschenkind retten. Die bunten Faust”-Szenen hatten Tempo, Pfiff und Hintersinn und kamen bei Publikum gut an.
  • Lady Macbeth und Macbeth sinnieren über den Mord, den sie gerade begangen haben: Bei Macbeth beginnt das Gewissen zu pochen.

Eine Karawane“ zieht aus dem Eingangsbereich des Kleinen Goldenen Saals ein und zitiert dazu den gleichnamigen Titel des Mitbegründers der Dada-Bewegung Hugo Ball. Schon lernt das Publikum die couragierte 13-köpfige Schauspielgruppe kennen, die sich als frischgebackene Abiturientinnen und Abiturienten unter der Leitung von Matthias Ferber auf den Weg gemacht hat, die Weiten der Literatur zu ergründen und dem Publikum gehalt- und lustvolle Kostproben aus ganz unterschiedlichen Werken zu präsentieren.

Noch zweimal wird das Spektakel dieses schrägen und ekstatischen Einzugs erfolgen, sodass man als Zuschauer diesen einen roten Faden des Abends erkennt und schließlich das Gefühl hat, diese Verse ohne Worte“ wie einen Text in Normalsprache zu verstehen.

Doch es gibt einen zweiten Orientierungspunkt, welcher den bunten und so vielseitigen Reigen der einzelnen Darbietungen verbindet. Ein Gerät des Schreckens aus dem Sportunterricht: der Kasten. Oder besser gesagt zwei Kästen, die als ganze oder in ihre Einzelteile zerlegt dem Abend immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes einen Rahmen geben.

Schon trägt Maximilian Mannel die ersten Kastenteile herum, der als Hausmeister die Aufgabe hat, den Schnelldurchlauf von Faust. Der Tragödie erster Teil“ auch wirklich in den zehn dafür eingeplanten Minuten ablaufen zu lassen. Mit Freude auf seinen eigenen Wissensschatz hört nun das Publikum zentrale Sätze aus dem Werk und staunt über die Wirkung der geplotteten Handmasken, die sich die Schauspieler vor das Gesicht halten. Ein Schluck aus einer grünen Pulle, ein Drehen der Maske – und schon ist Faust verjüngt und kann Gretchen nachstellen, das durch das behände Eingreifen des Hausmeisters bald im Gefängnis aus Kastenelementen steht und pünktlich gerichtet“, nein! gerettet“ ist.

Mephistophelisch geht der Abend weiter, wenn Maximilian, seiner Hausmeisterkluft entledigt, Paul Cornels Der Teufel“ singt und Vincent Fendt als Macbeth“ seine Hände betrachtet, auf denen er das Blut seiner Morde kleben sieht, das seine Gattin nicht mit ein wenig Wasser wird abwaschen können.

  • Drei Todesbegegnungen bei Gerhart Hauptmann, Franz Kafka und Max Frisch kamen vom schwebenden Balken, der die Gefangenheit des Menschen in seiner leiblichen Schwäche musterhaft verkörperte.
  • Büchners Drama Woyzeck” – mit der berühmten Fensterszene – war als stummes Spiel geboten, während am Rand die Synchronsprecher” den Text vortrugen, vorsangen und vorschrien.
  • Die frustrierte Soldatenbraut Marie mit ihrem unehelichen Kind rührte ebenso an …
  • … wie der verhetzte, psychisch labile Woyzeck, der sein Kind nicht einmal anschaut.
  • Im Da capo”-Durchgang übernahm P. Emmanuel Andres den Synchrontext, diesmal aber in heutiger Jugendsprache – und erntete mit seinem Vortrag Lachen, Staunen und viel Anerkennung.
  • Selbstverfasste Texte gehören zu Literatur lernt sprechen”: In Luca Wiegmanns Text Wind” kommen drängende Gegenwartsfragen eindringlich zur Sprache …
  • … begleitet und orchestriert von einem raunenden Hintergrundchor, der das Publikum mitanfasst.
  • Im Song Das Boot ist voll” des Singer-Songwriters Faber geht es um Selbstgefälligkeit, Hass und globalen Futterneid”: Die Bebilderung von den starren Zuschauern bis zu den aufgewühlten Protestierenden ging auch am Publikum nicht spurlos vorbei.
  • Diana Geßler gab Fabers Song eine markante, scharfe, aufrüttelnde Note.

Die Kästen zeigen nun immer mehr ihr Potential als Bühnenrequisiten, wenn sie eine Langbank tragen, auf der nun Yannick Ulbrich als Thiel, Moritz Blank als Gregor Samsa und Luca Wiegmann als Walter Faber beklemmende Texte vortragen, die um das Thema Tod kreisen. Bald werden zwei Kastenteile zu Fenstern, durch welche Diana Geßler als Marie und Claire Leicht als Margarete den Tambourmajor vorbeiflanieren sehen, wobei die Texte aus Büchners Woyzeck“ aus dem Off gesprochen werden.

Ein Highlight des Abends erfolgte in einem zweiten Durchlauf dieser Szene. Pater Emmanuel betritt die Bühne, nicht um das Publikum zu begrüßen, sondern um, wie das Programmheft verrät, als der Jugendsprache höchst unverdächtig“ die Fensterszene nun im Jargon der Jugendsprache vorzutragen. Diesen Text, bei dem sich die Zuschauer vor Lachen kringelten, hochseriös und ohne eine Miene zu verziehen vorzutragen, darf als schauspielerische Meisterleistung gelten.

Dieses Lob ist aber auf die ganze Gruppe zu übertragen, die sich bei der Vielzahl der dargebotenen Szenen durchaus in einen Rausch spielte und sich als dynamische und harmonische Einheit erwies. Ein wichtiger Bestandteil des Abends waren auch selbst geschriebene Texte und Gedichte, die von der Gruppe szenisch untermalt wurden: Luca Wiegmanns Wind“ wird zu einem Symbol der aktuellen Bedrohung der Menschheit durch den Klimawandel, dem der Einzelne nicht tatenlos gegenüberstehen darf. Yannick Ulbrich führte anschaulich vor, wie Das leere Blatt“ einen zermürben kann, Niclas Grünes pries seinen treuen Helfer“, den Wäscheständer, und Moritz Blank machte durch einen grandiosen Vortrag seinem Text Abstrusität“ alle Ehre.

  • Mit dem Sandmann” von E.T.A. Hoffmann erreichte die erste Spielhälfte von Literatur lernt sprechen 2024” einen echten Höhepunkt der Eindringlichkeit: Auf einer vielfach verstellten Bühne verloren die Akteure Schritt für Schritt Kontrolle über ihre seelische Stabilität, während die dämonischen Kräfte die Oberhand gewannen.
  • Der Sandmann” bedrängt den jungen Studenten Nathanael – und man weiß nicht einmal, ob das Geschehen real oder nur ein Hirngespinst ist.
  • Die bedrängenden Drei”, die Nathanaels Gemüt seit der Kindheit triggern, stehen am Schluss wie Sieger im Zentrum eines zerstörten Lebensraumes.
  • Yannick Ulbrichs Text Das leere Blatt” spricht von der Angst und Hilflosigkeit, im künstlerischen Prozess unkreativ zu bleiben.
  • Und ehe man sich versieht, rollt die Karawane” ein zweites Mal durch den Saal: Texte wie Jolifanto higo bloiko russula” fangen langsam an, einen Sinn zu bekommen.
  • The Great Gatsby”: Nach der Pause führt das Programm ins Amerika der Zwanziger Jahre, wo zunächst Glamour, Sektlaune und Party zu herrschen scheinen.
  • Der junge Nick Carraway ist nur zu gerne bereit, sich in diese Welt einladen und hineinverführen zu lassen.
  • Doch je näher er all dem rückt, desto mehr wird deutlich, wie auch Gewalt und Destruktion diese Welt hinter ihrer glänzenden Oberfläche durchdringen.
  • Ein Liebesgedicht von Karin Kiwus gab’s als Puppenspiel mit zwei Klappmaulpuppen im Schlafzimmer-Ambiente: Eine ernste Sache auf sehr heitere Art.
  • Moritz Blanks Text Abstrusität” führt durch ein aus Reim-Assoziationen überfülltes Denkerstübchen, in dem am Schluss ein wohliges Chaos herrscht – und viel Verblüffung.
  • Das berühmte Proöm der Odyssee” Homers berichtete ein Nachrichtenkorrespondent live vom Mittelmeerstrand – in griechischer Originalsprache.

Einen so langen und vielseitigen Theaterabend wird man nicht in jeder Einzelheit beleuchten können, unbedingt erwähnt seien aber die stark und bewegend inszenierten und intensiv gespielten Ausschnitte aus dem Sandmann“, eine Szene die wirklich ins Auge stach und unter die Haut ging. Nach der Pause zog das lebendige Gruppenstandbild der dekadenten, eindrucksvoll kostümierten Schar um The Great Gatsby“ den Zuschauer in seinen Bann und die plötzliche Interaktion des scheinbaren Szenehintergrunds mit dem als Erzähler fungierenden Nick Carraway, dessen Text Luca Wiegmann auf Englisch sprach.

Dieser vermeldete auch die aktuellen Nachrichten über den Tod Homers und die Bedeutung seines Werkes, bevor Moritz Blank bei einer Außenschalte mit vom Wind zerzausten Haar das Proömium von Homers Odyssee“ auf Altgriechisch vortrug.

Doch der Abend bot noch weitere Facetten und es ist an der Zeit, die Rolle der Musik zu würdigen. Diana Geßler sang Das Boot ist voll“ von Singer-Songwriter Faber und begeisterte dabei das Publikum. Den Text wird man sich wohl noch einmal in Ruhe zu Gemüte führen müssen, um seine Aussage bewerten zu können. Philipp Schwarz begleitete sie dabei am Klavier, der auch an anderen Stellen seine Virtuosität an diesem Instrument unter Beweis stellen konnte.

  • Schließlich schlüpfte Moritz Blank noch in die Rolle von Bodo Wartke, alias Arnold Schönberg, und erklärte allerlei zur Zwölftonmusik …
  • … während in der parallel laufenden Pantomime ein Restaurantgast an einer Gräte erstickt: In der Grätchenfrage” ging’s zwölftontechnisch-enharmonisch um die Frage, warum er den Fis(ch) (ge)ges(sen) hatte.
  • Niclas Grünes’ selbstverfasster Rätseltext vom Treuen Helfer” entpuppt sich zuletzt als ein Loblied auf einen Wäscheständer”: Sehr geistreich und witzig!
  • Pyramus und Thisbe” – eine melodramatische Theaterdarbietung von großem Liebesunglück aus dem alten Griechenland, dargeboten von einer heillos überforderten Laienspielertruppe – brachte als furioses Finale alle Lachmuskeln in Bewegung. Hier versucht das Liebespaar erfolglos, sich durch die Ritze einer Wand zu küssen.
  • Im weiteren Verlauf von Shakespeares genialer Episode aus dem Sommernachtstraum” geht der Mond auf und ein gefährlicher Löwe erscheint.
  • Das hat zur Folge, dass das Liebespaar sich durchaus noch begegnet – aber eben nur noch im Tod, was Pyramus und Thisbe dem Publikum wortreich darlegen …
  • … bis das Geschehen mit den hilflosen Schauspielern schließlich in einen schwungvollen Sirtaki übergeht: Da wurde klar, dass bei der Truppe von Literatur lernt sprechen 2024” das völlige Gegenteil der Fall war.
  • Große Lust, Liedenschaft, Tiefgang und Leichtigkeit, Ernst und Humor, Klassiker und Selbstverfasstes – unter der kundigen Leitung von Theaterlehrer Matthias Ferber: Langanhaltender Applaus nach einem furiosen Abend!

Bei Bodo Wartkes Die Grätchenfrage“ übernahm seinen Part Moritz Blank, der nach einer Einführung in Schönbergs Dodekaphonie diese Glanznummer des Musikkabaretts humorvoll und souverän bot, die von Merlin Greve als Gast und Luca Wiegmann als Kellner sehr gewitzt mimisch unterlegt wurde. Der Abend endete mit der beliebten Szene aus Shakespeares Sommernachtstraum“, in der die Handwerker ihre Version von Pyramus und Thisbe“ aufführten und dem Publikum damit einen sehr fröhlichen Abschied bereiteten.

Dieses dankte den Schauspielerinnen und Schauspielern sowie dem Spielleiter Matthias Ferber mit verdientem und begeistertem Beifall. Diese Gruppe hat nicht nur einen Kasten, sondern sie hat wirklich etwas auf dem Kasten!