Sternenpflücker, Herzfäden und Tagesbefehle
Der Phönix erhebt sich aufs Neue – und flattert davon. Mit diesem Bild aus Schülermund fand das Abitur 2022 am letzten Freitag im Juni sein Ende: 63 Abiturientinnen und Abiturienten wurden festlich mit der Zeugnisübergabe im Kleinen Goldenen Saal entlassen.
Ein Gottesdienst eröffnete den Tag: Schülerinnen und Schüler hatten Texte vorbereitet, Gebete formuliert und Musik ausgewählt. Im Mittelpunkt stand das Bild des Hirten, das stellvertretender Schulleiter P. Emmanuel Andres auf die Pädagogik übertrug und den Absolventinnen und Absolventen als Auftrag mitgab. Mit einem Blick ins Deutschabitur 2022 kam er auch auf ein Bild des Autors Christoph Ransmayr zu sprechen: Ein gestürzter Kellner hat einen Scherbenhaufen verursacht – und nun klauben viele Gäste, die zum Bestaunen einer Mondfinsternis gekommen sind, die Scherben auf, die selbst in der Finsternis noch glänzen, „als pflückten sie Sterne”. Die Botschaft von den Sternenpflückern gab dem Tag einen wertvollen Impuls: Jeder kann für jeden, auch in den Bruchstücken des banalen und oft auch rudimentären Alltags, Helfender, Stützender, Hirte und Sternenpflücker werden.
Nach dem Gruppenfoto das Absolviajahrganges mit Fotograf Ingo Dumreicher setzte sich die Feier im Kleinen Goldenen Saal fort. Eingerahmt von gut der Hälfte der Absolvia 2022 eröffnete Schulleiter Alexander Wolf seine erste Entlassfeier als neuer Chef von St. Stephan. Den Auftakt der Reden setzte für die 50-jährige Absolvia 1972 St. Stephans früherer Schulleiter Franz Lettner, der die Zeitumstände von 1972 (vom Club-of-Rome-Bericht mit der ersten Nennung des Stichwortes „Klimawandel” bis zur Bedrängnis durch den RAF-Terror) beleuchtete und reflektierte, wie man mit Wissen und Bildung den Herausforderungen der Zeit konstruktiv gestaltend entgegentreten kann: „Bildungshunger und Wissensdurst sind keine Dickmacher.“ Mit diesem Zitat des Aphoristikers Lothar Schmidt rundete Lettner seine vielschichtigen Überlegungen ab.
Schulleiter Alexander Wolf nahm in seiner wohldosierten Rede zwei grundverschiedene Texte genauer unter die Lupe: Die Abiturzeitung 2022 und den Roman „Herzfaden” von Thomas Hettche. Der Abiturzeitung – ein Blatt ohne Titel mit der so resignativen wie pluralistischen Formel „… einigen konnten wir uns nie …” – lauschte Wolf mit feinen Ohren die Grundhaltung der Demokratie und eines sehenden Idealismus (als Gegenstück zum blinden Idealismus) ab. Die Absolvia 2022 habe spürbar bewiesen, verantwortungsbewusst, vertrauensvoll und tolerant zu sein. Das Mittel dazu ist der „Herzfaden”: Autor Thomas Hettche beschreibt ihn in seinem gleichnamigen Roman über die Augsburger Puppenkiste als den emotionalen Faden, mit dem die Gliederpuppe den Zuschauer führt. Allen Absolventinnen und Absolventen wünschte er einen solchen Faden, mit dem sich mündiges Leben in gegenseitiger Verantwortung gestalten lässt.
Die „Worte der Absolvia” sprachen Leo Greiter und Maximilian Schäffer: Sie schauten mit fein dosiertem Humor, Wortwitz und Tiefenblick in die vergangenen acht Jahre. Pointiert wurde das Leitbild der Schule karikiert: „Der Mensch ist Mittel. Punkt.” Vom Schullandheim der Unterstufe bis zum digitalen Distanzunterricht der Q‑Phase legten sie offen, wie sich das alles im selbstkritisch-launigen Blick zurück im Nachhinein darstellt. Oberstufenkoordinatorin Martina Wiegner, die für das Kollegium das Wort ergriff, stieß in ein ähnliches Horn und zeigte die vielfältigen Begabungen auf, die sich die Absolvia 2022 erarbeitet habe: Vom Sich-helfen-Lassen über das Videokonferenz-Lernen (bisweilen auch mit gefakter Anwesenheit als bloße Kachel) bis zu den phantasiereichen „Tagesbefehlen”, die in kontinuierlichem Wachstum das Oberstufenbrett füllten und hoffentlich in manchem Geldbeutel die nächsten Jahrzehnte als Zeitdokumente überleben werden.
Für die Elternschaft sprach abschließend die frühere Elternbeiratsvorsitzende Birgit Bretthauer. Ihr Gedanke vom Fisch, der das Wasser nicht kennt, in dem er lebt, gab den Blick frei auf die Rahmenbedingungen, in denen wir leben. Schule könnte so ein Ort sein, der ein Umfeld an Haltungen und Werten schafft, in dem man sich immer bewusster und zugleich immer selbstverständlicher bewegt.
Gestaltet wurde die Feier mit kleinen, aber feinen Musikbeiträgen der Absolvia am Klavier (Yara Wollenhaupt und Malan Yang), an Violine (Stella Vielhaber) und Gitarre (Luca Spatz) und am Saxophon (Paulina Schwarz). Nach dem Festakt ging’s in die Kleine Aula im Schulneubau, wo der Tag mit einem exzellenten Buffet der „Gesunden Pause” bei vielen netten Begegnungen und anregenden Gesprächen ausklang.