Von beklemmend bis heiter: Kraftvolle Literatur
Als hätte sich ein Buch geöffnet und hätten sich dessen Figuren eigenständig verlebendigt – so bewegt erschien die Bühne des Kleinen Goldenen Saales am jüngsten Literarischen Abend des Gymnasiums bei St. Stephan zum Abitur 2018. Es war ein besonderer Abend, an dem Schülerinnen und Schüler des diesjährigen Abiturjahrganges ihre Sicht klassischer, zeitgenössischer und eigener literarischer Werke präsentierten unter dem an der Schule etablierten Motto „Literatur lernt sprechen“.
In den wenigen Wochen zwischen den Abiturprüfungen und der sogenannten Schulentlassung hatten sich neun Abiturientinnen und Abiturienten unter der Leitung von Studiendirektor Matthias Ferber versammelt, um ihren Wunsch- bzw. Lieblingstexten Leben einzuhauchen: Die Szenen, die dabei auf die Bühne gestellt wurden, waren nachdenklich, erheiternd banal, irritierend, beklemmend, unterhaltsam – und immer eines: kraftvoll.
Ein „schöner Abend” war versprochen worden. Der Abend hielt dieses Schönheits-Versprechen freilich nur zum Teil, denn die Schülerinnen und Schüler machten in der umsichtigen Lektüre, klugen Textauswahl und bühnenwirksamen Umsetzung von Werken wie Aldous Huxleys „Brave New World“, George Orwells „1984“, Thomas Manns „Tonio Kröger“, Matt Ruffs „Ich und die anderen“, Georg Büchners „Woyzeck“ und Camus’ „Der Mythos des Sisyphos“ manche Tiefen des menschlichen Daseins wie Manipulation und Folter, Einsamkeit, Wahnsinn oder die Absurdität des alltäglichen Tuns greifbar. Aufgeheitert wurden die rund 120 Zuschauer – unter ihnen Familienangehörige, Mitschüler und Lehrer – durch Peter Maiers „Einmal“-Kurzchroniken, Lyrik von Christian Morgenstern, Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ oder „Macbeth to go“.
Diese abschließende Macbeth-Darbietung des Abends war nur ein Beispiel für die Kreativität und Spiellust, mit der Abiturienten und Regisseur Ferber die gewählten Wunschtexte in Szene gesetzt hatten: Als menschliche Playmobil-Figuren bewegte „Spielleiter“ Serge Mateso in der „to go“-Variante des Shakespeare-Dramas seine Kollegen atemberaubend und witzig schnell durch den Macbeth-Stoff. Die kraftvolle Bildsprache der inszenierten Texte und Auszüge, ob Camus‘sche Seelenlosigkeit oder überdrehter Kitsch Morgenstern‘scher Lyrik, berührten gleichermaßen wie der Ausdruck rein rezitierter Texte, so Joshua Wölfels Prosa „Die Eiche“ und „Ein offener Brief“ oder eine Schullyrik-Szene aus Herrndorfs „Tschick“, von Lukas Epple glänzend vorgetragen.
Letztlich blieb ein Eindruck an diesem schönen – nein, intensiven, fordernden, witzigen, kraftvollen Abend: Diese Abiturientinnen und Abiturienten bringen Literatur leibhaftig zum Sprechen. Mit ihnen genießt es das Publikum, in anverwandelte Literatur – auch in manche angezweifelte Schullektüre – interessiert und lustvoll einzutauchen.