Wie ein Stich unter die Haut

  • Der Woyzeck” des Oberstufentheaterkurses 2025 setzt mit dem berühmten Antimärchen” ein vom Mädchen auf der Suche nach Sonne, Mond und Sternen: Welt und Weltall sind leer, entfremdet und kalt.
  • Aus der Menge schälen sich Woyzeck (Joseph Kolland) und Marie (Sophia Paula) heraus: Die beiden Leitern an den Seiten der Bühne werden zu Handlungsorten …
  • … einer in Hass und Verzweiflung umgeschlagenen Liebe. Woyzeck sticht – entsetzt von Unbeteiligten beobachtet – auf seine Geliebte Marie ein.
  • Sie ist auf der Stelle tot – und bleibt leblos auf der linken Leiter liegen.
  • Ein Beat setzt ein und entführt den Zuschauer in einen Club: Lebendigkeit, unbändige Lebenslust und ungehemmtes Miteinander irritieren Woyzeck heftig.
  • Woyzeck mischt sich unter die feiernde, besinnungslose Menge und phantasiert halluzinierend über den Tod.
  • Eine käufliche Dame (Abischag Prem) wanzt sich an ihn heran – und ist höchst verstört über die Todesgedanken, die Woyzeck auch ihr ins Gesicht sagt.
  • Und schließlich werden die Ersten auf die Blutflecken an Woyzecks rechter Hand aufmerksam, die Stimmung kippt …
  • … während Maries Leiche noch unentdeckt am Ort des Verbrechens liegt. Aber nun droht ja alles aufzufliegen.
  • Der Narr” (Katharina Bohl), eine Symbolfigur wie eine Schicksalsgöttin, zitiert aus Grimms Märchen: Ich rieche, rieche Menschenfleisch!”
  • Wie eine Götzenbild bleibt der Narr” auf der Bühne stehen, während die Verfolgung Woyzecks schon begonnen hat.
  • Woyzeck kehrt an den Tatort zurück und will die Tatwaffe, sein frisch gekauftes Messer, besser verstecken. Während er sich in einem Tümpel die Hände abwäscht, spricht er mit der toten Marie.

Zwei hohe Leitern stehen am Rand dreier Podeste vor dem geschlossenen Vorhang. In schwindelerregender Höhe passiert ein Mord auf Distanz. Woyzeck sticht auf der einen Leiter so lange mit dem Messer zu, bis Marie auf der anderen tot nach vorne sinkt und dort minutenlang kopfüber reg- und leblos verharrt.

Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck“ aus dem Jahr 1837 wird bei der Aufführung des Oberstufentheaters auf den Kopf gestellt: Sie beginnt mit der Ermordung Maries und legt dann auf bannende und beklemmende Weise offen, wie es zu einer solchen Distanz zwischen einem Paar kommen konnte, dass Woyzeck Marie bestialisch ermordet, die doch das Licht in seiner trüben Welt dargestellt hat: einer Welt, deren Hoffnungslosigkeit das wohl tristeste Märchen der deutschsprachigen Literatur andeutet, das die in schwarz gekleidete Gruppe nun eindrucksvoll vorträgt. Ein Waisenkind wandert durch Welt und Kosmos auf der Suche nach etwas Geborgenheit und findet nur Schmutz, Niedertracht, Tod und Verwesung. Der Rahmen ist gesetzt.

Woyzeck, grandios verkörpert von Joseph Kolland, sucht ein Wirtshaus auf, es wird als Club mit wummernden Beats inszeniert. Schnell wird das Blut an seinem Ärmel entdeckt und seine Notlüge, er habe sich nur in die Hand geschnitten, entlarvt. Ein Kreis schließt sich um ihn, aus dem er sich nur noch mit Mühe entreißen kann. Er rennt zu dem Waldsee, wo er Marie ermordet hat, und sucht verzweifelt nach der Tatwaffe, die ihn verraten könnte.

  • Ein Zeitsprung versetzt das Publikum an den Beginn der Geschichte: Woyzeck und sein Kamerad Andres (Elijah Hofmann, hinten rechts) führen in düsterem, verwildertem Gelände einen Auftrag aus.
  • Auch hier befällt Woyzeck eine Wahnsinnsattacke: Er hört Stimmen und spürt, dass alles von Freimaurern untergraben ist.
  • Man lernt Marie mit ihrem unehelichen Kindchen Christian (Karl Kruckow) kennen, die gerade mit ihrer Nachbarin (Helen van Houten) ein Schwätzchen hält, als ein Soldatentrupp durchmarschiert – der elegante Tambourmajor (Jakob Palme) voran.
  • Ihrem Söhnchen erklärt Marie alles über ihr Leben mit Woyzeck, aber Christian bleibt starr, die Situation überfordert ihn sichtlich.
  • Inzwischen zeigt sich, wie Woyzeck Marie und sein Kind durchbringt: Er arbeitet neben seiner Soldatentätigkeit auch noch als Schuhputzer …
  • … bei seinem Hauptmann (Judith Becker), der sich in Monologen über die Moral und das Leben als guter Mensch auslässt.
  • Woyzeck freilich, mit dem Putzbürstchen zwischen den Zähnen, lebt wie ein Hund, der knien, dienen und rackern muss – und von der Moral nur träumen kann.
  • Es muss was Schönes sein um die Moral.” Aber die armen Leut’, das erkennt Woyzeck glasklar, werden wahrscheinlich sogar im Himmel noch Frondienste leisten müssen.
  • Jahrmarkt ist in der Stadt – und auch eine Schaubude für absonderliche Tiere wird angepriesen. Diese Ménagerie d’animaux bizarres” wird von der Ausruferin (Evelyn Hirsch) beworben und lockt die Menschen magisch an.
  • Auch Marie und Woyzeck betreten das Zelt der Schaubude – heimlich verfolgt vom Tambourmajor (rechts), der sich schon auf Maries Fährte gesetzt hat.
  • In eindeutiger erotischer Absicht begibt auch er sich zusammen mit einem Offiziersfreund (Anna Matzak) in die Menagerie, um dort Marie ganz nah zu sein.
  • Neben der lächelnden Bergziege (Abischag Prem) und dem Affen mit Hut (Livia Schuierer) ist das sprechende Pferd (Marc Hirsch) die größte Attraktion, die der Budenbesitzer (Frieda Rothe) aufbieten kann.
  • Dieses Pferd ist ein Gelehrter, bildet Studenten an der Universität aus und kann den Menschen alles vorhersagen: Die Zuschauer sind begeistert.
  • Das Pferd weiß, dass es kein Esel ist und dass der Mensch mehr ist als ein viehdummes Individuum”. Das gefällt den Soldaten, die im Publikum sitzen.
  • Kurz darauf hat der Tambourmajor zwei goldene Ohrringe an Marie geschickt. Sie begafft sich selbst im Spiegel – und der kleine Christian muss sich zum Schlafen die Augen zuhalten.
  • Als Woyzeck kommt und sein mühselig verdientes Geld für Weib und Kind abgibt, wird Marie trotzig …
  • … und weiß doch gleichzeitig, dass ihre Hinwendung zum Tambourmajor ein Abrutschen und Versagen ist.

Immer mehr erweist sich die Sinnhaftigkeit und Funktionalität des Bühnenbilds. Eben noch Tanzfläche im Club werden die Podeste zum Ufer des Sees: Woyzeck greift ins imaginäre Wasser und schon fast direkt ins Publikum, das in den Sog des Geschehens gezogen ist.

Nun wird Büchners Dramenfragment von vorne aufgerollt. Der Chor wogt als Schilfgras auf der Bühne, der Soldat Woyzeck und sein Stubenkamerad und Freund Andres, den Elijah Hofmann einfühlsam spielt, knipsen kleine Lämpchen an, welche die einzelnen Schauspielerinnen und Schauspieler angesteckt haben, und schneiden Weidenruten. Woyzeck sieht Lichter und hört Stimmen, er halluziniert zwischen Wahnsinn und einer gewissen Weltsichtigkeit. Nicht nur Andres, der ein Kinderlied anstimmt, wird es beklommen zumute.

  • Derweil hält der Herr Garnisons-Medicus (Joel Dorn) eine kleine Vorlesung über den Unterschied von Mensch und Tier, von Subjekt und Objekt.
  • Als Forschungsobjekt zieht er Woyzeck herbei, der sich ihm als Versuchskaninchen” für Geld verdungen hat.
  • Als leibhaftiges Forschungsobjekt führt der Doktor seinen Probanden Woyzeck den Studenten vor.
  • Der akademische Nachwuchs nimmt rege an den Forschungen und der Symptomerhebung teil: Was passiert nicht alles, wenn ein Mensch sich über Wochen nur von Erbsen ernährt!
  • Und aus dem Subjekt Woyzeck” wird ein Forschungsobjekt – hier zeigt der Doktor etwa die Übergänge zum Esel”.
  • Marie trifft sich auf offener Straße mit ihrem feurigen Liebhaber, dem Tambourmajor, und ist zärtlich mit ihm.
  • Als Woyzeck des Weges kommt, sieht er zwar nichts mehr von dem Bruch ihrer Liebesbeziehung, aber er erspürt alles.
  • Schließlich ertappt ihn der Doktor dabei, wie er – gegen alle schriftlichen Abmachungen – an eine Hauswand gepisst hat.
  • Der Doktor kann seine Empörung kaum im Zaum halten. Aber Ärger ist uniwssenschaftlich!
  • Viel besser ist es, an Woyzeck wieder die aktuellsten Daten zu erheben: Puls, Herzschlag, Augen, Urinwerte …
  • Und auch der Hauptmann kriegt sogleich ungefragt eine äußerst unverschämte Diagnose auf offener Straße: Der Schlaganfall steht unmittelbar bevor!
  • Diesen Frust lässt der Hauptmann unverzüglich an Woyzeck aus: Ob er denn schon wisse, dass seine Frau einen anderen Mann zum Küssen habe?
  • Woyzeck verliert wieder einmal die Vernunftkontrolle und philosophiert über das Verhältnis von Ja und Nein”.
  • Der Doktor ist begeistert, was die Untreue der Frau bei Woyzeck für Körperreaktionen auslöst, und gewährt seinem Probanden augenblicklich eine Zulage bei den monatlichen Zahlungen.
  • Marie und der Tambourmajor tanzen verliebt im Club, umringt von Liebespaaren. Woyzeck versteht die Welt nicht mehr …
  • … und stößt wüste Beschimpfungen aus, bis er erkennt: So hat sich vor drei Jahren Marie auch ihm hingegeben.
  • Nach der durchtanzten Nacht fragt ein verkaterter Club-Prediger (Marc Hirsch): Warum ist der Mensch?” Gibt es einen einzigen sinnvollen Grund für die menschliche Existenz?

Es folgen die markanten Szenen, in denen Büchner messerscharf seziert, worin Ursachen für Woyzecks psychische Disposition liegen, die ihn zu einem Mörder werden lässt. Auf einer Leiter thronend lässt sich der Hauptmann von ihm die Stiefel putzen, Woyzeck kniet unter ihm und trägt – wie ein Hund einen Knochen – eine Bürste im Mund. Herablassend und im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab belehrt ihn der dekadente Hauptmann, den Judith Becker sehr überzeugend präsentiert, über seine fehlende Moral, hat er doch ein uneheliches Kind mit Marie gezeugt. Bösartig macht er sich über Woyzecks scheinbare Dummheit lustig. Für Woyzecks tastende und den leeren Worten des Hauptmanns überlegene Antwort, dass er gerne tugendhaft wäre, ihm aber dazu die finanziellen Voraussetzungen fehlten, kann er kein Verständnis aufbringen. Nicht erst Brecht war klar: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Um sich ein Zubrot zu verdienen, von dem er das meiste Marie und dem gemeinsamen Sohn Christian zukommen lässt, hat sich Woyzeck bei dem Doktor als Versuchskaninchen verdingt. Dieser ist begeistert, welche physischen und psychischen Auswirkungen die von ihm verschriebenen Ernährung, die nur aus Erbsen besteht, auf Woyzeck hat. Mit welcher Arroganz, welchem Sadismus der Doktor Woyzeck seinen Studenten vorführt, wird in einer Weise und Intensität dargestellt, die wie andere Szenen der Inszenierung die Grenzen der Möglichkeiten des Schultheaters auslotet und viele im Publikum an professionelles Theater denken lässt. Den Doktor spielt Joel Dorn mit glasklarer Intonation und aufwühlender Härte und Präsenz. Eindrucksvoll hat er seine Studenten wie Marionetten im Griff, die er durch Handbewegungen dirigiert und rhythmisch pulsen lässt, bis er Woyzeck in einer Brutalität in seinem labilen Zustand ausstellt, die tief unter die Haut geht.

Gehetzt bringt dieser das verdiente Geld sogleich zu Marie, die von Sophia Paula sehr glaubhaft und ausdrucksstark dargestellt wird. Eine überraschende Idee der Inszenierung liegt darin, dass der gemeinsame Sohn Christian von einem Jungen gespielt wird, wobei es beeindruckt, wie natürlich und unbefangen Karl Kruckow auftritt und mit der Gruppe interagiert. Kaum hat Marie den schneidigen Tambourmajor gesehen, den Jakob Palme mit der nötigen Überzeugung mimt, lässt sie sich schnell auf sein Werben ein, das an Direktheit nicht zu überbieten ist.

  • Marie liest in der Bibel über die Ehebrecherin – und ist tief erschüttert. Um das Kind kümmert sich mittlerweile schon der Narr”.
  • Andres und Woyzeck zusammen in der Soldatenstube: Woyzeck kann nicht schlafen – und Andres will endlich seine Ruhe.
  • Schließlich kommt es zum Übergriff: Der betrunkene Tambourmajor foltert den körperlich, seelisch und sozial geschwächten Woyzeck mit einer Pulle Schnaps …
  • … und lässt erst ab, nachdem er die ganze Pulle in und über Woyzeck gegossen hat, der knapp der Erstickung entgeht.
  • Eins nach dem andern!”, sagt sich Woyzeck, ordnet seine Dinge, übergibt seinen Dienstausweis an den Kameraden Andres, vertraut sein Kind Christian dem Narren an – und beschafft sich ein Messer.
  • Der Ausgangspunkt ist erreicht, das Publikum hat verstanden, miterlebt und mitvollzogen, warum Woyzeck zum Mörder geworden ist. Und auch auf der Bühne steht das Publikum”, die Gaffer, Besserwisser und Schaulustigen.
  • Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so kein’ gehabt!”
  • Und Woyzeck erscheint, er ist nun wirklich befleckt und wird sich – hier ganz am Ende des Geschehens – seiner Mordtat bewusst.
  • Besudelt von Blut geht er in die Knie und ist in der Rolle von Täter und Opfer nicht mehr zu unterscheiden.
  • Zugleich erinnert die Szene an die von gewaltigen Menschenmassen miterlebte Hinrichtung des historischen Woyzeck im 19. Jahrhundert. – Das Licht verlischt …

Die Intensität der Aufführung wird durch das perfekt abgestimmte Sounddesign gesteigert, das Adrian Sommer komponiert hat. Markant werden dabei Geräusche auf der Bühne aufgegriffen und motivisch variiert zu einem packenden Klangkörper arrangiert. Die Lichtregie ist exakt und absolut stimmig. Werktreue und packende Aktualisierung, sprachliche Klarheit und absolute Präsenz bei jeder Rolle überzeugen. Matthias Ferber gelingt es als Regisseur, das Stück mit seiner Gruppe in einer rasanten und berührenden Weise auf die Bühne zu bringen, wobei jede Person auch bei einer kleineren Rolle markant zur Geltung kommt.

Hervorzuheben seien noch zwei eindrucksvolle Szenen: die gewitzt und schwungvoll inszenierte Darbietung in der Jahrmarktsbude, bei der sich wiederum das Bühnenbild mit dem geschlossenen Vorhang bewährt, durch den man, kaum dass man ihn nach hinten durchschritten hat, die Bude sogleich wieder von hinten betritt; und die Demütigung Woyzecks durch den Tambourmajor. Wie ihm dieser Schnaps in Mund und Gesicht schüttet, sodass Woyzeck nur noch keuchen und prusten kann, versetzt einem einen Stich ins Herz. Das Maß ist voll, das Fass läuft über, nun kommt eins nach dem andern“: Woyzeck kauft das verhängnisvolle Messer, bis er am Ende im Blut badet und der Anfang der famosen Inszenierung wieder erreicht ist, die zurecht mit tosendem Applaus belohnt wird.

  • Großen und anhaltenden Applaus spendet das Publikum nach atemlosen 75 Minuten für die Hauptdarsteller und das ganze 20-köpfige Spielteam …
  • … aber auch für die großartige Arbeit des Sounddesigners Adrian Sommer, die hochengagierten Bühnen- und Lichttechniker und für Regisseur Matthias Ferber. (alle Bilder von Moritz Feller und P. Gregor Helms)