„Wussten Sie nicht, dass Schiller tot ist?“
Naja, angesichts der Datenlage war ich davon ausgegangen, dass Schiller tot ist – natürlich unsterblich, aber nur noch Schädel, er und Goethe und viele von denen. Am 27.6. im Kleinen Goldenen Saal wirkten sie aber dann doch nicht so. Sie waren sogar wirklich gut bei Stimme.
Ein reizvolles Setting sind immer über Jahre bekannte Schülerpersönlichkeiten in stimmungsvollem Ambiente, die in Rollen schlüpfen und dabei doch sie selber bleiben. Heuer boten unsere ausgesprochen vortragsstarken Abiturientinnen und Abiturienten einen besonders unterhaltsamen und bunten Reigen rund um ihre Lieblingswerke. Die ersten beiden Programmpunkte darf man vielleicht als eine Exposition verstehen, die das Unterfangen, einen literarischen Abend zum Abitur zu gestalten, mit zwei Schlaglichtern beleuchtet: Die oft entnervende Arbeit und ein mühevolles Ringen mit verschiedenen Tücken bei der Inszenierung, vorgestellt in Karel Čapeks „Wie ein Theaterstück entsteht“ ; zum Trost dann aber die ganze Opulenz des literarischen Erlebens – für mich gegossen in das Bild einer versprochenen phänomenal bewusstseinserweiternden Party im Poetry Slam von Moritz Kienemann. Die nüchterne Antiklimax, die bei Kienemann dann auf die Ankündigung folgte, blieb im Kleinen Goldenen Saal aus: Keine Ernüchterung und keiner „fiel auf die Fresse“ (Kienemanns Worte), weder Darsteller noch Publikum – ganz im Gegenteil.
Es folgten sensible Klänge – von Dennis Hackenberg professionell vorgetragene Lyrik aus Goethes „Faust“. Gleich darauf wurde aber mit dem Doktor abgerechnet, indem man das arme Schwein im Gelehrtenkämmerlein und seine Tragik um eng werdende Hosen und den Teufelspakt durch unprätentiöse Formeln wie „die Frau im Knast“ in äußerst unterhaltsame fünf Minuten bannte – wunderbar klar und nah an den Großen von Lutz Görner, vorgetragen von Sebastian Gäßler. Fulminanter Dada ging anschließend Felix Palzer scheinbar mühelos von den Lippen – selten empfand man einzeln stehende zufällige Buchstaben als so angenehm wie hier, wo man mit ihnen für viel Rrrrummmm und etwas wie „Rummpfteipfoteipfuzuzuiy” belohnt wurde. Welche Memorierleistung, welche Leichtigkeit bei der Wiedergabe! Vereint mit dieser „Sonate“ von Schwitters allein durch die musikalische Namensgebung schwebte nun, gut aufgehoben in vier räumlich voneinander entfernten Frauenstimmen, Paul Celans Todesfuge mit ihrer ganzen Zartheit und Wucht über ein stillgewordenes Publikum. Ernst auch die volltönende Darbietung der „alten bösen Lieder“ durch Thassilo Weiss mit ihrer abgründigen Stimmung und der starken Sargmetaphorik. Und dann wurde wieder abgerechnet – diesmal mit Schiller in einem herrlichen Sketch der Missverständnisse, dargestellt von Julia Tichawa und Liam Wiedemann. Eine junge Frau, die nicht weiß, dass Schiller tot ist, sorgt in diesem „Gespräch im Zug“ für gesunden Abstand zum Bildungsgut. Überlegen Sie mal: Welcher vernünftige Mensch schießt schon auf Obst? und Maria Stuart auf dem Schreibtisch zu bearbeiten, war doch recht deftig von Schiller. Letzte Nummer vor der Pause war die Fortsetzung von Čapeks Inszenierungswirren, diesmal beherrscht von technischen Widrigkeiten; das Ensemble um den gestrengen Regisseur Sebastian Gäßler und die hysterisch-zarte Diva Lara Kieser war nun erweitert um Niklas Hasselmeyer als strahlendem Helden im absurden Plot rund um die Beschlagnahmung des Papstes und seine Inkarzerierung in einem Schrank in St. Stephan.
Über die Pause wurden Held und Co. bei Čapek dann entsetzlich vergesslich und bereiteten dem Stück und dem Regisseur ein rasches Ende. Verwand man das im Publikum mit Leichtigkeit, wurde es jetzt bedrückend: In einer szenischen Darstellung rund um den in der Mitte der Bühne postierten jungen Autor Thassilo Weiss ging es um tiefe Gefühle – eine Losgelöstheit aus allen Bezugssystemen, eine freischwebende, qualvolle Sinnsuche. In folgender eindringlicher Liebeslyrik ging es szenisch bis zu einem beunruhigenden Punkt intim zu, bevor ein eleganter fließender Übergang zu Lyrik von Rilke und Hesse führte, träumerisch ästhetisch hinterlegt durch Gitarre und Klavier. Nun war es Zeit für Epik: Ferdinand Brenner beleuchtete mit der Erzählung „Es wird etwas geschehen“ von Heinrich Böll die Welt der Erwerbsarbeit, die hier durch die ironische Distanz und die Sprache als ein durchweg lächerliches Konzept erscheint. Der Erzähler findet sich ein in eine Welt, die am Kern und am Leben vorbeigeht, und dieser Kern ist Seife – oder ist es doch die Sinnhaftigkeit, an der sie vorbeigeht? Wunderbar der völlig freie und glasklar artikulierte Vortrag und die ironische Brechung dieses Mikrokosmos, in der die unermüdliche Tätigkeit kreißt und doch keinen Sinn gebiert, alles Schein und nichts heilig ist.
Heilig ist auch Schiller nicht – er war es nie und soll es auch nicht sein, das demonstrierte nun Felix Palzer durch die lächerlich klassische Platzierung des Buches, aus dem er Schillers „Taucher“ vortrug. Und Palzer hat recht – Erhabenheit ist nicht gut für Schiller, Respekt schon. Genau das bekam er auch: Ironische Distanz in der großen Geste, eine optische Parodie bei gleichzeitiger akustische Huldigung an den Text. Und dann wurde Schiller getaucht durch einen leicht verblödeten König in Heinz Erhardts „Tauchenichts“, dem Liam Wiedemann seine Stimme lieh und der nichts als eine verlässlich grässliche Tochter in Aussicht stellen kann.
Ein überraschendes und wunderbares Format trat nun auf: Voller Stift, leeres Blatt und Simon Balzat. Zur Fontane’schen Erzählung, einfühlsam vorgetragen von Lara Kieser, entstand, zunächst für das Publikum nicht sichtbar, ein Frauenportrait. Im Text begegnet uns eine fröstelnde junge Kranke, die, eingehüllt in Decken, Melancholie und ästhetisierende Morbidität, den verbalen Fußtritt gegen das Gefäß mit todbringenden Fingerhutessenzen durch einen werbenden jungen Mann vornehm abwehrt. Für moderne Ohren eine vordergründig unerträglich porzellanerne Frauengestalt – aber Simon Balzat fing im Bild präzise ein, welche Untertöne sich hier verbergen: Da sah uns ein gar nicht asexuelles, kokett halb abgewandtes Frauenportrait an – vielschichtig, kollwitzhaft hohlwangig oder vielleicht verrucht, auf keinen Fall unschuldig, eine starke Mischung aus Schwäche und Femme fatale. Beeindruckend! Profan und lustig ging es weiter: Niklas Hasselmeyer, eigentlich bekannt als ein Faktenmensch, gab im Sketch „Die Führerscheinprüfung“ von Otto Waalkes überzeugend einen verstiegenen und verbildeten Schöngeist, an dem sein Führerscheinprüfer – wieder der gestrenge Herr Gäßler – verzweifelte. Es sollte doch um Autos gehen, und stattdessen wurde alles zerlegt, alles eitel – nur eines blieb: Der wohlgesetzte Kraftausdruck beim Abgang. Herrlich auch die folgende Lehrernamenkakophonie im Ensemble, in dem alle richtig tickten, bis sie ein bombiges Ende fanden. Wieder einmal bewahrheitete sich: Es geht nichts über Wiedererkennungseffekte und Freches am Ende des Abends. Das wirkliche Ende führte zurück zu den Basics des Menschlichen: Otto Waalkes lieferte die Vorlage für die Entschärfung einer Konfliktsituation, indem diese in alle Einzelbefehle von Leber an Großhirn an Hand an Kleinhirn et cetera zergliedert dargestellt wurde. Das hinterließ einen als Zuhörer friedlich und vage stolz auf die Komplexität der eigenen Wirkungszusammenhänge.
Der lange und donnernde Applaus signalisierte unmissverständlich: Dreimal Chapot an alle Darsteller und an den Koordinator Matthias Ferber! Ich möchte mich auch verneigen vor der Gedächtnisleistung der Vortragenden – es geht doch nichts über ein junges Gedächtnis, durchtrainiert durch fünf Abiturprüfungen. Sehr gefallen hat mir auch die Verbindung der einzelnen Programmpunkte in der sympathischen Moderation durch Anna Illgner und Liam Wiedemann.
Möge dieser Abend vor allem für die engagierten Darstellerinnen und Darsteller ein Urknall für ein Erwachsenenleben mit der Literatur sein! Ich selbst nehme die Erinnerung an eine äußerst erfrischende Haltung gegenüber unserer Literatur mit, für die ich den Begriff „palzeresk“ prägen möchte: Die ganze Achtung dem Werk gegenüber, die sich hinter einer kompetenten und lebendigen Darbietung verbirgt – mit der Absage an die große Geste, die alles auf einen Sockel hebt und stumm staunende Distanz hält. Die alten Lieder werden wohl wirklich viel zu oft in Bücherschränken begraben, die damit zu großen Särgen werden. Dem hat man hier mit sichtlicher Freude Widerstand geleistet.