Zuschauer wollen berührt sein
Seit mehr als zehn Jahren schart StD Matthias Ferber für das Projekt „Literatur lernt sprechen“ zwischen den schriftlichen Abiturprüfungen und der Kolloquienzeit Abiturientinnen und Abiturienten um sich. Diese Veranstaltung stellt eine aller Ehren werte Institution im Kanon der literarischen Abende des sprachlich-kulturellen Gymnasiums bei St. Stephan dar. Doch aus welchen Motiven heraus lassen sich die baldigen Ex-Schülerinnen und Ex-Schüler zusammentrommeln? Nehmen nach all der Mühsal der Abschlussprüfungen noch teils mehrere Proben pro Woche in Kauf sowie Texteinrichtungen bzw. das Lernen von Textmengen? Warum genießen sie in der Gluthitze des Sommers nicht einfach ihre wohlverdiente Freizeit?
Zum einen haben Texte sie während all ihrer Schuljahre begleitet, jeden individuell andere. Die Texte und sie sind vertraut miteinander geworden, haben die Schülerinnen und Schüler beschäftigt, bewegt, berührt! Ob in gesungener Form oder der eigenen Feder entflossen – dargeboten werden bei LLS, „Literatur lernt sprechen“, ihre Texte! Und sie wollen das Ihre mit einem Publikum in aller Öffentlichkeit teilen. Deswegen nehmen sie alle Probiererei in Kauf, Lampenfieber, kritisch formende Kommentare des Mentors, der als der Erfahrene in Sachen Bühnenarbeit ihre Ideen nicht nur sehenswert, sondern natürlich groß machen möchte – für sie. Sie wollen ihrem Publikum etwas von sich in künstlerischer Form zukommen lassen, um sich selbst auszudrücken. Um ihr Publikum zu beschäftigen, zu bewegen, zu berühren!
Zum anderen werden sie wohl spüren, dass sich ihre und die Wege der Klassen- bzw. Kurskameraden nun immer weiter verästeln, um sich – nach Überreichung des allerletzten Schulzeugnisses – weitestgehend zu trennen. Altes endet, Neues beginnt, ob man dessen gewahr wird oder nicht. Vielleicht ist es auch eine Vorahnung der Abiturient*innen, dass LLS das gemeinsame Projekt am Ende ihrer gymnasialen Schulzeit sein wird. Dass sie hier noch einmal die Bühne brennen, die Kühe fliegen lassen und ein Feuerwerk abfackeln können – ein großer Showdown ist stemmbar. Ein letztes Mal.
Was war an diesem Abend zu sehen?
Gelungen inszeniert und herrlich irritierend begann der Abend, als die Aktiven Sätze aus Thomas Bernhards „Der deutsche Mittagstisch“ in einem Wortgefecht durch die Reihen polyphonieren ließen – ein vielversprechender Auftakt.
Ab der nächsten Nummer etablierte sich ein Präsentationsmodus, der sich durch den Abend ziehen sollte: Einer und mehrere lesen den Text vor, andere illustrieren das Vorgelesene mit einigen Gesten bzw. in Standbildern. Hin und wieder wurde auch ohne Text in der Hand rezitiert, was aber dann des Öfteren des Soufflierens bedurfte. Konnte so das Spiel ihrer Texte in Fluss kommen und der Abend für Spieler und Zuschauer deshalb nur so dahinfliegen?
In Theaterkreisen werden in Feedback-Runden gerne „magic moments“ benannt, die es natürlich auch an diesem Abend gab.
Phänomenal anzuhören war das schaurig-schöne Gelächter einer der drei Macbeth-Hexen – die junge Frau hatte sich da oben getraut, aus sich herauszugehen, hatte die Komfortzone ihres eigenen Ichs des Bühnenspiels wegen verlassen. Respekt! Übrigens war es ihr Wunsch gewesen, diesen Text zu spielen. Manchem Zuschauer wird noch heute ihre herrlich irre Hohnlache in den Ohren rauschen …
Stark war auch das chorische Element, das die Begegnung der Königstochter Nausikaa mit dem „beinahe erstickten und ertrunkenen“ Odysseus einleitete – so war es auf dem Programmblatt zu lesen. Dem Gestrandeten war von aller durchlebten Pein aber nichts anzumerken, unbewegt stand er da. Seine Nackedei-Schürze sorgte indes für einen Lacher.
Hernach kämpfte Steuermann John Maynard um das Leben aller Passagiere an Bord, die sich laut Ballade in ärgster Seenot befanden. Die weiteren Spieler standen hinter ihm; doch dass ihnen ihr baldiges Ableben drohte, war ihnen nicht anzusehen. Inszenatorisch überraschend war aber, dass alle zu Boden fielen, er hingegen stehen blieb – ein gelungener Kontrast zum eigentlichen Geschehen.
Wieder mit einer Erweiterung des bespielten Raumes überzeugte die Chorpartie aus Georg Kaisers „Gas II“, als die amorphe und zur Belanglosigkeit degradierte Arbeitermasse zu sakralen Klängen wie bei einer Totenmesse den Raum abschritt, um zum Werkzeug des „Großingenieurs“ zu werden.
Augenzwinkernd und nett war nach der Pause der Mobile-Phone-Monolog, ein echtes Glanzstück hingegen die Szene aus Horváths „Wienerwald“: Eingelullt von melancholisch verzuckernden Walzerklängen sah man einen schmierigen Lustmolch, der eine Dame anzüglich bedrängte, und das, während er immer wieder derb von einem Wurst-Schwengel abbiss … Auch hier ging jemand im Spiel aus sich heraus, sodass die Zu-Schauer im besten Wortsinn erneut Aktion zu sehen bekamen.
Texte über den Holocaust berühren unweigerlich. Oder? – Die jüdische Autorin Anna Seghers saß sinnierend am Tisch, eine ihrer Hauptfiguren, der aus dem KZ entkommene Heisler im Hintergrund. Er näherte und setzte sich, während sie alsbald aufstand und weiterhin sinnierte. Über unentwegt knackende Lautsprecher waren aufgenommene Texte aus Biographie und Roman zu hören. Zweimal stoppte die Aufnahme ganz, was hektisches Wischen auf dem „bespielten“ Handy zur Folge hatte: Die Fülle der rein auditiv zu erfassenden Informationen wurde so immer wieder durch die streikende Technik unterbrochen. Warum lasen nicht wie schon zuvor Spielerinnen und Spieler den Text live vor? Oder warum konnte man keinem Schau-Spiel zusehen mit weit weniger, dafür aber zündend präsentiertem Text?
Danach, im modernisierten Märchen der sieben Geißlein durfte der Wolf in Kanak Sprak pöbeln, worauf er sich aufs Beste verstand – auch er ging aus sich heraus! Außerdem trug er eine Brusttasche, was der echten Geißenmama nie eingefallen wäre – da war Bewegung hinter den ansonsten verdeckenden Märchenbüchern zu entdecken! Spannend, klang doch die Frage an, woran Kinder eigentlich ihre Mutter erkennen? Noch spannender zu sehen wäre gewesen, was die Aktiven, auf deren Wunsch hin dieser Text auf die Bühne kam, an diesem Märchen interessierte? Warum war das ihr Text? Was daran hatte sie berührt? Und weshalb?
Loriot lebt von den kleinen, bei ihm aber auf die Spitze getriebenen Dissonanzen des Alltags. Gerade wenn sich sein Text in Wiederholungen ergeht, braucht es ausdeutendes, spielerisches Crescendo; die drei gezeigten Nummern spitzten sich gemütlich ihrem Ende entgegen. Marc-Uwe Klings herrlich komische Absurditäten aus den „Känguru-Chroniken” konnte man im Spiel erkennen, besonders anhand der immer fassungsloseren Figur des Marc-Uwe an der Wohnungstür.
Wie war’s denn jetzt? Auf’n Punkt!
Fassen Sie doch selber alles bisher Geschriebene für sich zusammen, wenn Sie es brauchen. Oder lesen Sie es nochmal. Beides ist zur Hälfte ernst gemeint. Ich für meinen Teil sehe den imaginären Vorhang geschlossen, aber noch Fragen offen, wie etwa:
Warum haben sich diese 16 Abiturientinnen und Abiturienten genau diese Texte erwählt? Warum nicht andere? Was hat sie an exakt diesem Material beschäftigt, bewegt, berührt?
Was lag ihnen so sehr am Herzen, dass sie – wie viele Schülergenerationen davor – ihr Äußerstes geben wollten, um sich selbst öffentlich auszudrücken? Um am Ende ihrer gymnasialen Zeit mit ihren Texten gemeinsam die Bühne im Kleinen Goldenen Saal in Flammen aufgehen zu lassen? Um ihre Funken fliegen zu lassen hin zu ihrem Publikum? Denn das Publikum will beschäftig werden, bewegt und berührt!