St. Stephans außergewöhnliche Sonnenuhr

Sonnenuhr mit integrierter Zeitgleichung und Mitteleuropäischer Sommerzeit

  • Sonnenuhr an der Westwand im Hof der Kinderkrippe

Sie ist einzigartig. Sie ist keine Funk- oder Quarzuhr. Und sie zeigt dennoch seit mehr als dreißig Jahren auf die Minute genau die Zeit an – Sommerzeit inclusive: unsere Sonnenuhr im hinteren Klosterhof (Kinderkrippe), leicht zu erreichen und jederzeit zu sehen von der Karmelitenmauer aus (Ecke Kleines Karmelitengässchen).

Sie ist alles andere als eine gewöhnliche Sonnenuhr“:

  • Sie hat nicht nur ein einziges Zifferblatt, sondern zwei;
  • Sie hat keine Geraden als Stundenlinien, sondern halbe Achter“;
  • Sie hat keinen auf den Himmelspol ausgerichteten Stab, dessen Schatten sonst immer die Stunden geradlinig markiert; vielmehr wirft je eine Kugel einen Schattenpunkt als Zeitmarke auf das Zifferblatt.

Genaue Uhrzeit nur durch genaue Berücksichtigung der Gegebenheiten

Sonnenuhren stehen in dem schlechten Ruf, immer falsch zu gehen. Denn zunächst muss auf jeden Fall die geographische Länge des Beobachtungsortes auf dem Zifferblatt berücksichtigt werden. Unsere Mitteleuropäische Zeit gilt nämlich, was den Sonnenstand angeht, genaugenommen nur für den 15. Längengrad (z. B. die Stadt Görlitz). In Augsburg (ca. 11° östl. Länge) hat die Sonne erst 16 Minuten später ihren Höchststand, in Ulm (10° östl. Länge) weitere 4 Minuten später. Bei vielen Sonnenuhren ist das berücksichtigt. Trotzdem gehen sie im Lauf eines Jahres bis zu gut einer Viertelstunde vor oder nach. Das kommt daher, dass die Erde nach dem 2. Keplerschen Gesetz (s. Abb. 2) im Sommer (in Sonnenferne) langsamer, im Winter (in Sonnennähe [!]) schneller um die Sonne unterwegs ist. Da sie aber immer gleich schnell um die eigene Achse rotiert, stünde sie allein durch diesen Einfluss zu jeweils einer festen Uhrzeit ein halbes Jahr lang mehr oder weniger weiter östlich, ein halbes Jahr lang mehr oder weniger weiter westlich als erwartet. Hinzu kommt, dass die Erdachse um ca. 23° gegen die Erdbahnebene geneigt ist. Und weil für unsere Uhrzeit aufgrund der Längengradeinteilung der Äquator maßgeblich ist, müssen die von der Erde täglich auf der Ekliptikebene zurückgelegten Bahnstücke bzw. Winkel auf die Äquatorebene projiziert werden. Dadurch ergibt sich ein zusätzliches Vorauseilen und Zurückbleiben, das für sich im Vierteljahresrhythmus variiert. (Siehe hierzu auch den ausführlichen Exkurs Sonnenuhr und Zeitgleichung)

Beide Einflüsse zusammen ergeben das sog. Analemma“: Übers ganze Jahr am selben Ort stets zur gleichen Uhrzeit (z.B. 14 Uhr) fotografiert, beschreibt der Sonnenstand am Himmel etwa eine Acht (Abb. 3). Bringt man vor einer Wand eine Kugel an, so zeigt ihr Schattenverlauf das Sonnenanalemma punktgespiegelt an der Wand: jede Stundenlinie muss also als eine solche 8 ausgeführt werden (Abb. 4).

  • Abbildung 2: Keplersches Gesetz
  • Abbildung 3: Zeitgleichung und Analemma. Die Kurven in der linken Bildhälfte zeigen das Zustandekommen der sog. Zeitgleichung (unten; rot) durch den Einfluss der Bahnellipse (oben; blau) und den Einfluss der Projektionseffekte (Mitte; grün), als Abweichung (in Minuten; senkrechte Achse) des tatsächlichen Sonnenhöchststandes von der Zwölf-Uhr-Marke der mittleren Ortszeit, also noch ohne Einbeziehung der geogr. Länge des Beobachtungsortes. (Begriffserklärung und vergrößerte Graphik siehe nachfolgenden Exkurs Sonnenuhr und Zeitgleichung). Mitte: Analemma als Ganzjahresfoto des Sonnenstandes zur jeweils selben Uhrzeit. Rechts: Graphisches Analemma: Nach- und Vorgehen einer gewöhnlichen Sonnenuhr im Lauf des Jahres.
  • Abbildung 4: Sonnenstand und Schattenwurf: Analemma an der Wand
  • Abbildung 5ab: Auf zwei Zifferblätter aufgeteiltes Analemma und Monatslinien

Nun weiß man aber auf die Schnelle nicht, ob für die aktuelle Zeitangabe die linke oder rechte Seite des Achters gilt. Darum ist er bei unserer Sonnenuhr aufgeteilt (Abb. 5a) in die Winter- und Frühjahrslinie (links) und die Sommer- und Herbstlinie (rechts). Das Ergebnis sind zwei Zifferblätter mit je eigener schattengebender Kugel mit Jahreszeitangabe auf jeder der beiden Uhren. – Dass die Uhr nur die Nachmittagsstunden angibt, hat seinen Grund darin, dass es sich um eine Westwand handelt, die erst ab Mittag Sonne abbekommt.

Einbau“ der Sommerzeit

Der Schatten der Kugel trifft die Wand je nach Jahreszeit in verschiedener Höhe (Abb. 5b). Am 21. Dezember läuft der Schatten im Lauf des Tages die oberste schräge Linie entlang (mathematisch ein Hyperbel-Ast), am 21. Juni die unterste. Am 21. März und 23. September ist die Schattenbahn eine Gerade, die also Winter und Frühjahr bzw. Sommer und Herbst trennt. Da die Sommerzeit damals noch vom letzten März- bis zum letzten Septembersonntag dauerte (inzwischen leider bis zum letzten Oktobersonntag verlängert), konnte die genannte Gerade auch als Trennlinie zwischen Sommer- und Normalzeit verwendet werden: Trifft der Schattenpunkt in die unteren, heller gehaltenen Felder, haben wir Sommerzeit, für die deshalb die Stundenangabe an der untersten Linie gilt; trifft der Schatten in die oberen, dunkleren Felder, haben wir Normalzeit und es gilt die Stundenangabe an der obersten Linie. Seit 1996 muss man halt leider wissen“, dass im Oktober noch Sommerzeit ist. An eine Übermalung“ ist höchstens für den Wegfall der Sommerzeit gedacht …

  • Stefan Schrammel bei der Arbeit im Jahr 1986
  • Entwurf in der Turnhalle mit (v. l.) Stefan Wiedemann, Klaus Kugelmann, Stefan Schrammel und Heinz Schmalbach

Die Schöpfer der Sonnenuhr

Die Berechnung des Zifferblatts und vorausgehend die Bestimmung der genauen Abweichung der Wand von der Nord-Süd-Richtung (Westwand!), war Aufgabe und Inhalt einer Facharbeit in Mathematik, die Stefan Kirstein seinerzeit (Abitur 1981) glanzvoll bewältigte. Er veranschlagte für seine damals noch ohne PC berechneten 174 Schattenpunkte eine Zeitabweichung von maximal 1 Minute zur kritischsten Ablesezeit um 12.30 Uhr, was sich bestens bestätigte. – An die praktische Umsetzung machte sich 1985/86 der damals 18-jährige Stefan Schrammel (Abitur 1985), wofür er in der Sommerferienzeit 1986 mit einigen Mitschülern als Helfern die halbe Turnhalle benötigte für seinen 1:1‑Entwurf samt Stundenlinien, die akribisch aus den von Stefan Kirstein berechneten Punktkoordinaten zu interpolieren waren. Der geeignet perforierte Entwurf wurde dann mittels Aschestaub unter Anleitung unseres damaligen Kunsterziehers Fritz Hummel (+ 2016) genauestens auf die Wand übertragen. Die künstlerische Ausgestaltung mit Keim-Farben in Fresko-Technik meisterte Stefan Schrammel dann an Ort und Stelle.

Künstlerische Ausgestaltung

Unterhalb der brodelnden Sonne als Sinnbild des Lebens, der Dynamik und der Energie hat Stefan Schrammel zwei Figurengruppen gegenübergestellt. Die linke ist nach einer gotischen Miniatur gestaltet: Gott misst die Welt ab, die Weisheit ist ihm zugesellt (vgl. Spr 8,27: Ich, die Weisheit, war bei ihm, als er den Erdkreis abmaß“). Rechts mit Plan und technischem Gerät der Wissenschaftler, der die Naturgesetze (des Lebens wie u. a. auch des präzisen Laufs der Sonne) erforscht, interpretiert und in Freiheit anwendet und dabei dem Fehlgriff und dem Bösen nicht entgeht; und der bei allem Forschen die Grundfragen letztlich nicht beantworten kann: nach Gott, nach dem Leben, nach dem Bösen.

Diesen Gedanken will auch das beigegebene Chronostichon („Zeit-Vers“) ausdrücken, dessen hervorgehobene lateinische Zahlzeichen zusammengezählt 1986, das Jahr der Fertigstellung, ergeben:
QVAESTIONES HERI AC CRAS:
BENEDICENS DEVS, VIVIFICANS SOL, DESTRVENS TV
Fragen gestern wie morgen: nach dem gütigen Gott, nach der lebenspendenden Sonne, nach dem Bösen in dir“.

  • Das Zifferblatt und seine Bildelemente im Detail

So vermag unsere Sonnenuhr über ihre chronometrischen Aufgaben hinaus den Betrachter vielleicht ein wenig zum Staunen über den Kosmos und zum Nachdenken über die Rolle des Menschen darin anzuregen.