„Woyzeck”-Einladung ins Stadttheater Kaufbeuren

  • Der ehemalige Salzstadel in Kaufbeuren, seit 1804 zum Stadttheater umgebaut, empfing früh am Morgen des Gastspieltages die Augsburger Theatergruppe: Woyzeck” war für alle Kaufbeurer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten auf den Spielplan gesetzt worden.
  • Möglich wurde, was auf der Schulbühne nicht gelungen war, eine Gegenlichtszene zum Ende des Woyzeck”: Herausforderungen, die die Gruppe intensiv beflügelten.
  • Denn es gab noch erheblichen Abstimmungs- und Klärungsbedarf, um in dem Bürgertheater die Inszenierung aus der Schulaula einzupflanzen.

Obgleich Fragment geblieben, wird Georg Büchners Woyzeck“ auf deutschen Bühnen nach wie vor gern aufgeführt. Das liegt unter anderem auch daran, dass mit diesem offenen Drama, dessen Szenenfolge willkürlich erscheint, das erste moderne Stück der Theatergeschichte vorliegt.

Rund zwanzig Oberstufen-Schülerinnen und ‑Schüler vom Augsburger Gymnasium bei St. Stephan folgten unter ihrem Lehrer Matthias Ferber einer Einladung des Jakob-Brucker-Gymnasiums und boten in einem Gastspiel vor Schülern der 12. Klasse der beiden Kaufbeurer Gymnasien ihre eigene Fassung des Woyzeck” von 1837 im historischen Kaufbeurer Stadttheater.

  • Büchners Woyzeck” stellte sich unter den veränderten Bedingungen im Kaufbeurer Stadttheater von 1805 ganz neuen Herausforderungen: Die Raumstruktur verdichtete das 21-köpfige Ensemble spürbar – und bewirkte stellenweise noch kompaktere und packendere Situationen.
  • Die zerknirschte Marie und ihr Sohn Christian, wieder gespielt vom Nachwuchsschauspieler” Karl Kruckow, kamen auch in Kaufbeuren dem Publikum sehr nah.

Thematisch stellt Büchner mit seinem sozialen Drama die geknechtete und vielfach drangsalierte Existenz des einfachen Soldaten Franz Woyzeck (beeindruckend dargestellt von Joseph Kolland) in die Mitte. Woyzeck befindet sich als Antiheld auf der untersten Stufe der Gesellschaftsleiter und wird zum Opfer seines Vorgesetzten (auf der Leiter Judith Becker als weiblich besetzter Hauptmann); ihm muss er die Stiefel putzen und dabei dessen oberflächliches Salbadern zum Thema Moral über sich ergehen lassen. Den Vorwurf des Offiziers, er habe ein Kind ohne den Segen der Kirche“, kontert Woyzeck zwar demütig-gekonnt mit einem passenden Bibelzitat, dringt damit aber bei dem intellektuell eher schlicht aufgestellten Hauptmann nicht durch.

Ganz anders der Doktor (herrlich akademisch überdreht vor seinen Studenten gespielt von Joel Dorn); er degradiert Woyzeck zum Versuchsobjekt seiner medizinischen Studien, mit denen er die Wissenschaft revolutionieren“ möchte. Aber auch vom eigenen Stand wird Woyzecks Würde mit Füßen getreten: Seine Geliebte Marie (selbstbewusst gespielt von Sophia Paula) betrügt ihn mit dem Tambourmajor (testosterongesteuert agiert Jakob Palme), obwohl Woyzeck treusorgend das kärglich verdiente Geld der Frau mit dem Kind auf dem Schoß (wunderbar natürlich der 5‑jährige Karl Kruckow) in die Hand zählt.

Die Akteure von St. Stephan gliederten die 20 vorgestellten Szenen in drei Teile, wobei sie das Mordgeschehen gleich an den Anfang stellten und die Zuschauer so – wie in einem analytischen Drama – den Weg der scheiternden Beziehung von Woyzeck und Marie in die Katastrophe hautnah mitvollziehen konnten. Die luzide und facettenreiche Inszenierung der Augsburger Gymnasiasten zeigte aber mehr als ein bloßes Liebes- und Eifersuchtsdrama um einen physisch und psychisch kranken Prekarier. Verhandelt wird auch die jederzeit aktuelle Frage um Menschenwürde und menschliche Existenz schlechthin: Ist der Mensch nun ein vernunftbegabtes höchstes Wesen oder doch nur ein viehdummes Individuum“, das durch Verkleidung und oberflächlich befolgte Konventionen sein Tiersein kaschiert?

Die Mordtat des Franz Woyzeck wurde in dieser eindrucksvollen Inszenierung als letzter auswegloser Schrei, als gellender Ruf nach menschlicher Achtung in einem seelenlosen Kampf des Jeden gegen Jeden präsentiert. Es ist erstaunlich und erfreulich zugleich, auf welchem Niveau Schultheater betrieben werden kann. Langanhaltender verdienter Applaus für das gesamte mit Verve aufspielende Ensemble!